#Viele Frauen glaubten lange, Übergriffigkeiten erdulden zu müssen
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Eine Büroangestellte macht während einer Besprechung einen Vorschlag, wie das ins Stocken geratene Projekt doch noch vorangebracht werden könne. Der Chef winkt nur müde ab, der Rest der Runde zeigt keine Reaktion. Am nächsten Tag sitzt die Belegschaft erneut zusammen. Diesmal meldet sich ein männlicher Mitarbeiter zu Wort und trägt exakt den Gedanken vor, mit dem die Kollegin gestern noch auf Gleichgültigkeit stieß. Nur erhält er dafür Lob und Anerkennung.
Nach landläufiger Lesart handelt es sich hier um ein leicht plakatives, aber keineswegs unrealistisches Beispiel für Alltagssexismus. Dieser Deutung würde auch die an der New York University lehrende britische Philosophin Miranda Fricker zustimmen. Sie selbst führt diese Szene an, um zu veranschaulichen, worum es sich bei dem von ihr geprägten Begriff der „Epistemischen Ungerechtigkeit“ handelt. Unter diesem Titel ist Frickers Buch nun auf Deutsch erschienen – sechzehn Jahre nach dem Original, das in der Fachwelt als „wegweisend“, wenn nicht gar „bahnbrechend“, gelegentlich auch kritisch, jedenfalls überaus lebhaft rezipiert wurde.
Folgt man Frickers allgemeiner Definition, handelt es sich bei der epistemischen Ungerechtigkeit um eine perfide Form der Diskriminierung: Der dadurch verursachte Schaden hat neben einer ethischen noch eine erkenntnistheoretische Dimension. Wer einem epistemischem Unrecht zum Opfer fällt, dem werden seine Glaubwürdigkeit und Intelligenz abgesprochen, oder ihm werden existenzielle begriffliche Ressourcen vorenthalten. Nicht selten ziehen diese Kränkungen ökonomischen und physischen Schaden nach sich.
Von „sexueller Belästigung“ spricht man erst seit Mitte der Siebzigerjahre
Zwei Hauptvarianten des titelgebenden Unrechts werden unterschieden: Die Büroangestellte, die ihrem männlichen Kollegen in nichts nachsteht, dennoch für weniger kompetent gehalten wird, fällt einer sexismusverseuchten Form der „Zeugnisungerechtigkeit“ zum Opfer. Derartiges ist laut Fricker nach wie vor an der Tagesordnung, weil diejenigen, auf deren Seite sich systematische Vorurteile, Privilegien und Macht versammeln, es sich leisten können, sich als Zuhörer zurückzulehnen. Aus dieser Position lässt sich der Stab über all jene brechen, die beständig in die Lage geraten, sich beweisen zu müssen. Dazu zählen neben Frauen und sexuellen Minderheiten all jene, die aufgrund von Hautfarbe, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit marginalisiert werden.
Miranda Fricker: „Epistemische Ungerechtigkeit“. Macht und Ethik des Wissens.
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Bild: C.H. Beck Verlag
Bei der zweiten Variante, der „hermeneutischen Ungerechtigkeit“, verfügt eine Person erst gar nicht über die Deutungsmittel, um ein Unrecht kommunizieren zu können. Beispielsweise sickerte der Ausdruck „sexuelle Belästigung“ erst von Mitte der Siebzigerjahre an ins kollektive Bewusstsein. Zuvor glaubten viele Frauen, Übergriffigkeiten erdulden zu müssen.
Bei allem Scharfsinn, mit dem Fricker den Zusammenhang von sozialer Identität, Macht und Wissen bis in psychologische und gesellschaftspolitische Verästelungen aufdröselt, hat ihre Untersuchung inzwischen merklich Patina angesetzt. Einige Stellen waren davon bereits 2007, dem Erscheinungsjahr des englischen Titels „Epistemic Injustice“, betroffen. Das gilt insbesondere für die Darstellung all jener Gruppen, die von epistemischer Ungerechtigkeit betroffen sind. Die Möglichkeit des Widerstands auf Seiten der Opfer taucht nicht im Ansatz auf. Die Macht, die Welt zu einem epistemisch gerechteren Ort zu machen, liegt ausschließlich in den Händen der Mächtigen.
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