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#Volkstum auf vergiftetem Boden

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„Volkstum auf vergiftetem Boden“

Einen „wienerischen Untertreiber“ hat ihn sein ungarischer Kollege György Ligeti einmal genannt, mit austriakischer Lust am Sprach-Drahtseilakt das Paradoxon von kleiner Allüre und großer Wirkung pointierend. Denn Friedrich Cerha war der Typ des Bewegers, der das allemal Fragment bleibende Ganze von Kunst, Leben und Gesellschaft im Auge behielt. Ein untertreibender Umtreiber also, in der Nachfolge von Franz Liszt und Ferruccio Busoni – als Komponist, Interpret, Lehrer, Schriftsteller, Bild-Künstler, Vermittler, Innovator.

Überdies war er auch Wiener, folglich gespalten. Er kannte die Stadt, ihren reaktionären Immobilismus, den Affekt wider alles Neue und Fremde, ihre unvergleichliche Intrigenkultur; aber auch ihre Kunstversessenheit, ihre Phantasiepotentiale, in der sich Vitales und Morbides ergänzen – und in der sich viele Schichten und Geschichten überlagert haben. Der weiche Wiener Ton, in Sprache wie Musik, der auch grantig-grob sein kann, ist nicht eben geradlinig.

So schrieb Cerha zwei „Keintaten“, Vierfach-Anspielung auf Kantate und den Textdichter Ernst Kein. Zugleich war Tate das jiddische Wort für Vater, das Werk heißt also auch „vaterlos“. Und viertens evozierte der Avantgardist Cerha hier den Tonfall der süß-depressiv-hinterhältigen Wiener Lieder: Volkstum auf doppelt hohlem wie zugleich vergiftetem Boden. Auf „absolute“ Musik kam es ihm weniger an, wohl aber auf extreme strukturelle Dichte verschiedenster Art, etwa die Klangflächen-Komposition. Ob Cerha, Ligeti oder Krzysztof Penderecki der Erste mit dieser Technik war, bleibe dahingestellt. Karlheinz Stockhausen hat manchmal pene­trant beansprucht, der Schnellste gewesen zu sein. Aber Cerhas „Spiegel“-Serie, auch „Netzwerk“ waren herausragende Beispiele schillernd klaustrophobischer Textur: Labyrinthe als Weltbilder mit thea­tralischer Untersicht.

Ein serieller Komponist der Darmstädter Schule war Cerha nicht, Struktur per se weniger seine Sache. Ein Wiener Widerspruch freilich war, dass die Zeitschrift „die reihe“ Forum der Avantgarde war; während das Ensemble „die reihe“, im Jahr 1958 von Cerha und Kurt Schwertsik gegründet, gerade nicht nur das striktest Neue spielte, sondern Erik Satie, Edgard Varèse und Ligeti durchsetzte. Als Dirigent hat Cerha unerhörte Verdienste.

Erst recht wurde er auf einem anderen Feld zum Pionier: Alban Bergs „Lulu“ war Torso geblieben, von der Witwe als „unvollendbar“ kanonisiert. Cerha ist es gelungen, den dritten Akt auf der Basis von Bergs Vorlagen „herzustellen“. Die komplette „Lulu“ wurde im Jahr 1979 in Paris durch von Pierre Boulez und Patrice Chéreau uraufgeführt, hat sich in dieser Fassung durchgesetzt. Reste von Skepsis bleiben. Die Vaterfigur Berg in ihrer Mischung aus äußerster Stringenz und antidogmatischer Großzügigkeit hat ihn auch sonst nicht losgelassen: In der Brecht-Oper „Baal“ geht auch Bergs „Wozzeck“ um – passend zu Cerhas Credo: „Es kommt weniger auf die Materialien an, sondern auf den Beziehungsreichtum innerhalb der Komposition.“

Unablässig hat er weiterkomponiert, nicht zuletzt Opern, vor Jahren allerdings das Dirigieren eingestellt. Stets aber blieb er bei seinem Traum: Musik als Netzwerk, dehnbar, doch unkorrumpierbar. Oder anders: „Der Glaube fehlt, hinterlässt einen Friedhof menschlichen Herrschafts- und Ordnungsstrebens – und Fragen.“ Womit wir wieder in Wien wären. Am Dienstag ist Friedrich Cerha dort gestorben, drei Tage vor seinem 97. Geburtstag.

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