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#Abstiegsängste der Mitte: Wie schlecht geht es der Mittelschicht?

Inflation, hohe Mieten, Energiepreisschock: Die Mittelschicht fürchtet sich vor dem sozialen Abstieg – und schätzt sich gleichzeitig ärmer ein, als sie ist. Wie kommt das?

Auf die Frage, welcher Schicht er angehört, reagierte ein Freund verdutzt. Er lachte und sagte sehr bestimmt: „Mittelschicht!“ Sein Jahreseinkommen beträgt etwa 150.000 Euro, er lebt mit seiner Familie in einer großen Eigentumswohnung in einer Kleinstadt und fährt dreimal im Jahr in den Urlaub. Sein Aktiendepot entwickelt sich prächtig, der Dax steht auf Rekordhoch.

Natürlich gehört dieser Freund nicht zur Mittelschicht, sondern zur Oberschicht. Selbst der Multimillionär Friedrich Merz sagte trotz Privatjet vor ein paar Jahren: „Also, ich würde mich zu der gehobenen Mittelschicht in Deutschland zählen.“ Wäre dem so, unser Land würde blühen, die Bahn wäre längst saniert und sämtliche Häuser wärmeenergetisch optimiert. Doch diese Fehleinschätzungen sind kein Zufall, denn die meisten Menschen ordnen sich der Mittelschicht zu, die für wirtschaftliche Sicherheit steht und dafür, dass man auf das Erreichte stolz sein kann. Die Reichen und die Armen, die behaupten, der Mittelschicht anzugehören, „mogeln“ jedoch nicht bewusst, sondern sind von der Richtigkeit ihrer Einschätzung überzeugt.

Merz und sein Privatjet

Der Soziologe Holger Lengfeld von der Universität Leipzig spricht von einem „zweifachen Effekt der sozialen Erwünschtheit“. Der erste sei, dass es für viele Menschen nicht erträglich ist, zur Gruppe der Armen zu zählen. Wir sind eine Leistungsgesellschaft, da wolle man zu den Erfolgreichen gehören, weshalb sich ein Teil der unteren Schicht der Mitte zuschreibe. Die Statusinkonsequenz beruht also auf Scham. Und die Oberschicht? „Ein Teil der Oberschicht verortet sich in der Mitte, weil wir kulturell eine Gesellschaft des erwünschten Ausgleichs sind. Die Deutschen sind sehr ungleichheitssensibel.“

Wenn der Nachbar einen Ferrari fährt, während in der eigenen Garage nur ein Golf steht, dann beglückwünscht der Deutsche den Nachbar eher nicht. Er fragt sich: Geht dieser Reichtum mit rechten Dingen zu? Woher hat der das viele Geld? Neid also. Diesen Neid spürt die Oberschicht und stapelt wie Friedrich Merz lieber tief, um keine Begehrlichkeiten zu wecken.

Außerdem verbringen die meisten Zeit mit Menschen aus ihrer eigenen Schicht, was die Wahrnehmung zusätzlich verzerrt, weil der Wohlstand der anderen als Maßstab gilt und nicht die Armut der Abgehängten. Trotzdem ist das merkwürdig, denn auch in deutschen Städten ist Armut so sichtbar, dass man mit Scheuklappen durchs Leben gehen muss, um davon nichts mitzubekommen.

Holger Lengfeld erzählt von einem Radiogespräch mit Hörerbeteiligung. Er war als Experte geladen, und als er einem Anrufer entgegnete, er selbst gehöre nicht zur Mittel-, sondern zur Oberschicht, da reagierte der Anrufer sehr wütend. Er warf Lengfeld Arroganz vor, dabei hatte der sich nur an eine gängige Definition der Mittelschicht gehalten: Zur Mitte gehört demnach, wer zwischen 75 Prozent und 150 Prozent des verfügbaren Durchschnittseinkommens in Deutschland hat, das etwa 27.400 Euro beträgt. Darunter sind sowohl Krankenpfleger als auch angestellte Ärzte, Kleinunternehmer, Fachkräfte, Lehrer.

Weil so viele junge Menschen studieren, wächst der akademische Anteil der Mittelschicht. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht von einer hoch qualifizierten neuen Mittelklasse, die in urbanen Gegenden lebt und für die etwa Risikobereitschaft oder Work-Life-Balance einen höheren Stellenwert hat als für den Handwerker. Reckwitz betrachtet nicht nur die wirtschaftliche Situation, sondern auch die Lebensstile sowie das symbolische Prestige.

AfD-Wähler sind die am meisten gehasst Gruppe

Die Mitte ist ein weites Feld. Und sie ist kleiner geworden: „Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit zeigt, dass im Jahr 2018 zur Mitte 64 Prozent der Bevölkerung gehörten. 1970 waren es aber noch 70 Prozent“, sagt Lengfeld. Wichtig sei allerdings, dass die Schrumpfung bereits Anfang der Jahre nach 2000 stattfand. In dieser Phase – hohe Arbeitslosigkeit, befristete Arbeitsverträge, geringes Wachstum – sei die Mitte erheblich unter Druck geraten.

Lengfeld beobachtet die Mittelschicht und deren Abstiegsängste schon lange, und er sagt, dass die Sorgen vor dem sozialen Abstieg in den Jahren 2006 und 2007 einen Höhepunkt erreicht haben, danach nahmen die Ängste trotz der Wirtschaftskrise 2008 stetig ab – und zwar bis 2020. Die Erhebung endet vor Corona und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, neuere Zahlen hat Lengfeld nicht, aber man braucht auch keine Zahlen, um zu wissen, dass die mit der Corona-Pandemie verbundenen Insolvenzen, die Jobverluste und finanziellen Einbußen sowie die Energiekrise die Abstiegssorgen zugespitzt haben.

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