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#Was Martin Walser mit seinem Land verband

Martin Walser ist gestorben, fast ein Jahrhundert alt. Acht Monate nach dem Tod des um zwei Jahre jüngeren Hans Magnus Enzensberger. Damit sind die letzten beiden der drei Großen ihrer literarischen Generation gegangen; Günter Grass, wie Walser Jahrgang 1927, starb 2015. „Ehen in Philippsburg“ von Walser und „Die Verteidigung der Wölfe“ von Enzensberger ­erschienen jeweils 1957, zwei Jahre später folgte Grass mit „Die Blechtrommel“. Die drei Schriftsteller wurden fortan parallel über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg als Repräsentanten ihres Landes wahrgenommen. Nicht immer zu ihrem Glück; auch nicht immer zu seinem.

„Deutsche Sorgen“ – so hätte außer Walser aber nur Grass einen eigenen Essay betiteln können; Enzensberger focht im Gegensatz zu den anderen beiden mit dem Florett, nicht mit dem Säbel, und deshalb war er für Walser zwar Mitstreiter im publizistischen Kampf, etwa gegen den Vietnamkrieg (Walsers beide Aufsätze zum Thema standen 1967 in Enzensbergers „Kurs­buch“), aber nicht satisfak­tions­­fähig. Sie waren getrennt durch die Fronterfahrung, die Walser als Siebzehnjähriger noch machen musste und die Enzensberger als dem Jüngeren erspart geblieben war. Grass dagegen hatte sie auch gemacht.

Als Walsers Aufsatz „Deutsche Sorgen“ am 5. Dezember 1989 in der F.A.Z. erschien, trug er noch den Titel „Zum Stand der deutschen Dinge“ (den späteren bekam er 1997 in der Werkausgabe und behielt ihn seitdem bei allen Nachdrucken, da er von Walser selbst stammt). Er war als Antwort auf Günter Grass formuliert, der nach dem Mauerfall eine Beibehaltung der deutschen Zweistaatlichkeit gefordert hatte. Walser dagegen war trotz zwischenzeitlich weit links von Grass stehender Position (einen offenen Brief an Erich Honecker unterschrieb er 1974 mit „sozialistischen Grüßen“) in den Achtzigerjahren zum unbedingten Befürworter einer Wiedervereinigung geworden – schon um die deutsche Schuld abtragen zu können, die er in dem epochemachenden Aufsatz „Unser Auschwitz“ 1965 konstatiert hatte. Die schien ihm zu groß für einen einzelnen Teilstaat.

In „Deutsche Sorgen“ nun proklamierte er: „Deutsche Geschichte darf auch einmal gutgehen.“ Und sie gab ihm im Jahr darauf recht. Das resultierende Glücksgefühl bestärkte Walser in seiner Überzeugung, der politischste Kopf unter den deutschen Schriftstellern zu sein, zumindest der politisch zurechnungsfähigste – für den literarisch zurechnungsfähigsten hielt er sich schon länger. Deshalb traf ihn Kritik hart, und der Einschnitt der Paulskirchenrede von 1998 anlässlich der Entgegennahme des Friedenspreises – neben dem Büchnerpreis von 1981 die wichtigste Auszeichnung, die Walser erhalten hat – war bitter für ihn. Alles, was er von „Unser Auschwitz“ an als Analytiker der deutschen Vergangenheit ge­leistet hatte, sollte gegenstandslos geworden sein? Was er nicht begriff, war, wie sehr er sich in den 33 Jahren Abstand gewandelt hatte und dass er die „Moralkeule“, die er nun gegen sein Land geschwungen sah, ehedem selbst geführt hatte – und das mit Recht. Der fragwürdige Begriff schlug auf ihn selbst zurück; auch der junge Walser hätte es dem alten nicht verziehen.

In der Folge verlegte sich ausgerechnet der alte, bislang stets gefeierte Autor auf einen Ratschlag, den er 1962 in seinem „Brief an einen ganz jungen Autor“ erteilt hatte: „Gib Dich so scheu, wie Du bist.“ Das war Walser tatsächlich, nur hatte es niemand bemerkt, weil er die Scheu mit den großen Themen zu kaschieren gewusst hatte. Den Romanen und Erzählungen merkt man die Scheu mehr an als den Essays – zum Glück der Letzteren, denn Entschiedenheit ist eine essayistische Tugend. Aber Walsers Fiktion wiederum profitierte von der emotionalen Skrupulosität des Schriftstellers, die unvergessliche Figuren hervorbrachte wie Hans Beumann aus den „Ehen in Philippsburg“, das „Wahlverwandtschaften“-verwandte Personal in der Novelle „Ein fliehendes Pferd“ (1978) oder Alfred Dorn in „Die Verteidigung der Kindheit“, Walsers blitzschnellem belle­tristischen Kommentar zur gerade überwundenen deutsch-deutschen Teilung, erschienen 1991.

Walser lebte fürs Schreiben, und er schrieb, um zu leben. Das Existenzielle dieser Konstellation unterschied ihn von Grass und Enzensberger, die jeweils noch Betätigungs­felder abseits ihrer eigenen Bücher hatten – Grass als politischer und politisierender Publizist, Enzensberger als Literaturvermittler zwischen den Kulturen. So erschien auch im höchsten Alter von Walser mit der Zuverlässigkeit eines Uhrwerks noch ein Buch nach dem anderen. Dasjenige, was ihm zuletzt am wichtigsten gewesen sein dürfte, war die Essaysammlung „Ewig aktuell“ von 2017. Der letzte Text darin schließt mit den Sätzen: „Deutsch ist, dazulernen zu können. Seit ich erlebt habe, wie die deutsche Teilung überwunden wurde, glaube ich an Fortschritt.“ Das Sorgenkind war daheim.

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