Wissenschaft

Wie unser Gehirn großzügiges Verhalten steuert

In unserem Gehirn gibt es einen Bereich, der prosoziales Verhalten steuert, wie Forschende bei einer speziellen Patientengruppe herausgefunden haben. Demnach kalibriert die „basolaterale Amygdala“, ein Teil des limbischen Systems, wie großzügig wir uns gegenüber Fremden und Freunden verhalten. Diese Hirnregion wägt zwischen Egoismus und Altruismus ab und berücksichtigt dabei auch, wie nahe wir einzelnen Mitmenschen stehen. Bei Personen, bei denen dieses Gehirnareal beschädigt ist, erfolgt diese Abstufung so radikal, dass sie fast nur noch mit engen Freunden teilen, wie die Studie zeigte. Die Erkenntnisse könnten künftig helfen, Menschen mit sozialen Verhaltensauffälligkeiten zu helfen.

Menschen sind soziale Wesen: Wir unterstützen uns gegenseitig und verhalten uns generell prosozial. Doch wir behandeln nicht alle unsere Mitmenschen gleich. Familie und Freunden begegnen wir beispielsweise wohlwollender als Fremden. Warum das so ist und welche neuronalen Mechanismen im Gehirn unser Sozialverhalten steuern, ist noch nicht vollständig geklärt.

Subregion der Amygdala im Visier

Ein Team um Tobias Kalenscher von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) ist nun der Frage nachgegangen, wie großzügig wir uns gegenüber nahe und weniger nahestehenden Personen verhalten und was dabei in unserem Gehirn passiert. Dafür arbeiteten die Forschenden mit fünf Patienten in Südafrika zusammen, die an dem äußerst seltenen „Urbach-Wiethe-Syndrom“ (UWD) leiden. Weltweit sind weniger als 150 Betroffene dieser Erbkrankheit bekannt. Sie haben ein verändertes Gefühlsleben und Sozialverhalten. Beispielsweise können sie aus Gesichtsausdrücken nicht auf die darin ausgedrückten Emotionen schließen.

Grafik zeigt, wie viel Geld die Testpersonen während des Spiels jeweils abgegeben haben
Die Grafik zeigt, wie viel Geld Probanden der Kontrollgruppe (blau) und wie viel Probanden mit Urbach-Wiethe-Syndrom (rot) während des Spiels jeweils verteilt haben, abhängig von der sozialen Distanz zur Empfängerperson (horizontale Achse). © HHU / Tobias Kalenscher

Grund dafür ist, dass bei den Betroffenen die sogenannte basolaterale Amygdala (kurz BLA) geschädigt ist. „Von dieser Hirnregion wird vermutet, dass sie für das mitfühlende Verhalten gegenüber anderen Menschen maßgeblich sind“, sagt Kalenscher. Um diesen Zusammenhang zu überprüfen, führten die Forschenden mit den Patienten sowie 16 gesunden Kontrollpersonen Spielexperimente durch. Die Teilnehmenden erhielten Geld, welches sie an acht andere Menschen verteilen konnten. Dabei sollten sie selbst entscheiden, wie viel sie jeweils engen Freunden, Bekannten, Nachbarn oder Fremden abgeben. Familienmitglieder als nächste Bezugspersonen waren im Spiel nicht erlaubt, um die Abstufung der sozialen Nähe besser untersuchen zu können.

„Die Ergebnisse waren eindeutig: Menschen mit BLA-Schädigung waren gegenüber nahestehenden Personen genauso großzügig wie gesunde Kontrollpersonen. Doch sobald es um Personen ging, zu denen ein geringeres emotionales Verhältnis bestand, verhielten sie sich auffallend egoistischer“, berichtet Co-Autorin Luca Lüpken von der HHU. Die Probanden mit Urbach-Wiethe-Syndrom gaben Fremden und losen Bekannten demnach deutlich weniger Geld ab als Menschen mit intakter basolateraler Amygdala. „Die Bereitschaft der UWD-Teilnehmer zum Teilen nahm mit zunehmender sozialer Distanz stärker ab“, schreibt das Team.

Hirnregion steuert den Grad der Großzügigkeit

Kalenscher und seine Kollegen schließen aus dem Experiment, dass diese Hirnregion nicht grundsätzlich notwendig ist, um altruistisch oder prosozial zu handeln. Aber die basolaterale Amygdala steuert, wie großzügig wir in Abhängigkeit von der empfundenen Näher zu einer Person sind. Fehlt diese Form der Kalibrierung, zeigen Betroffene nur dann prosoziales Verhalten, wenn es sich um die besten Freunde handelt – Personen mit großer emotionaler Nähe. Beim Umgang mit Fremden und Bekannten dominiert ohne BLA hingegen die natürliche Tendenz, das eigene Wohl über das Wohl anderer zu stellen, schließt das Team. Diese Entscheidung wird dann über andere neuronale Schaltkreise und Hirnregionen verarbeitet.

Demnach gibt es in unserem Gehirn einen Bereich, der unser Sozialverhalten steuert und die Balance hält zwischen Egoismus und Altruismus: die basolaterale Amygdala. „Soziale Entscheidungen sind nicht nur von unserer Erziehung oder Kultur geprägt, sondern sie sind auch tief in den Mechanismen unseres Gehirns verankert“, sagt Kalenscher. Diese Erkenntnis könnte künftig helfen, andere Erkrankungen besser zu verstehen, bei denen soziale Entscheidungen verändert sind – beispielsweise Autismus oder Psychopathie. „Vielleicht wird es in Zukunft möglich sein, gezielte Therapien zu entwickeln, um Menschen mit sozialen Verhaltensauffälligkeiten zu helfen, ihre Entscheidungsprozesse besser zu steuern“, so Kalenscher.

Quelle: Tobias Kalenscher (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) et al.; Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), doi: 10.1073/pnas.2500692122

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