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#Zum Tod des Tänzers Steve Paxton: Die Wahrheit liegt in der Improvisation

Lyrischer Tänzer mit athletischem Körper: Steve Paxton fand im Tanz eine Verbindung zum Selbst und in Alltagsbewegungen eine Demokratisierung seiner Disziplin. Zum Tod eines Tanzvisionärs.

Tänzer teilten am Mittwochabend in den sozialen Medien zuerst die traurige Nachricht, dass der weltberühmte amerikanische Choreograph, Lehrer, Coach, Autor und Tänzer Steve Paxton zwei Tage zuvor gestorben war. Er wurde 85 Jahre alt. Seit Langem lebte er auf einer Farm in Vermont fernab der Zentren der Tanzwelt und liebte es, sein eigenes Gemüse anzubauen. Das autarke Leben als Selbstversorger, die Solitude gefielen ihm.

Doch der Mann, der sich im Alter nur noch so selten weglocken ließ von der Arbeit auf dem Feld und im Garten, hatte in seinem Leben einen immensen Einfluss auf die Entwicklung des postmodernen Tanzes bis nach Europa gewonnen. Sein berühmtestes Solo, Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“ in Glenn Goulds Einspielung, tanzte er selbst zwischen 1986 und 1992. Aber als der slowenische Tänzer Jurij Konjar es sich beibrachte, erlebte das großartige Stück von 2010 bis 2020 eine unglaubliche Renaissance mit weltweiten Aufführungen. Es ist so schlicht, so schön, so ergreifend, so erdverbunden und spirituell, dass wer es gesehen hat, nie mehr eine andere Choreographie dieser Musik braucht.

Eine Demokratisierung des Tanzes

Steve Paxton war eine „Symbolfigur des zeitgenössischen Tanzes“, wie der Direktor des Impulstanzfestivals in Wien, Karl Regensburger, heute sagte. Paxton wird weithin betrauert, auf dem Kontinent wie in den Vereinigten Staaten – Tänzer wie Sasha Waltz, Mark Tompkins, Vera Mantero oder Boris Charmatz studierten seine Technik.

Dass der lyrische Tänzer mit dem athletischen Körper zu einer Ikone geworden war, hätte man in seiner Gegenwart niemals sagen dürfen. Zwar konnte er sehr witzig und ironisch sein, aber seine ernste, intellektuelle und feinfühlige Ausstrahlung hatte etwas Einschüchterndes, natürlich ohne dass er das wollte. Eine Ikone der amerikanischen Postmoderne, um genauer zu sein, denn er gehörte 1962 mit Trisha Brown zu den Gründungsmitgliedern des Judson Dance Theatre, wo die wildesten Aufführungen New Yorks stattfanden. 1970 folgte die Gründung des Improvisations- und Performance-Kollektivs „Grand Union“.

Choreographie, das konnte nun organisierte Bewegung im Raum sein, ein Tanz konnte darin bestehen, mit einem Auto auf sein Publikum im Parkhaus zuzufahren oder den Boden vor ihm zu fegen. Sie dachten über eine Demokratisierung des Tanzes nach und fanden, dass Alltagsbewegungen nicht diskriminiert werden sollten. Es war Steve Paxton, der das „Fiktionale des kulturellen Tanzes“ feststellte und dieser sozialen Konstruktion des Ästhetischen gegenüberstellte, was er „die Wahrheit der Improvisation“ nannte. Nach dieser Wahrheit hatte sich Misha Baryshnikov gesehnt, wie er seinen Tänzern vom „White Oak Dance Project“ später erklärte. In Russland war ihm das New Yorker Judson Dance Theatre als der Inbegriff der Freiheit erschienen, die Idee, warum es sich lohnen würde zu fliehen.

In einem Vortrag hat Paxton seinen eigenen Schlüsselmoment beschrieben, wie nämlich ihn eine Erkenntnis traf, die sein Körperinteresse begründete, die Notwendigkeit, mit dem Tanz eine Verbindung zum eigenen Körper, zur Propriozeption herzustellen. Ein naturwissenschaftliches Experiment zur Wahrnehmung hieß den Schüler drei Becken mit Wasser füllen: links kalt, rechts heiß und in der Mitte Zimmertemperatur. Die linke Hand sollte in das eiskalte, die rechte in das heiße, anschließend sollten beide in das mittlere Becken eintauchen. Der linken Hand kam das mittlere Becken warm, der rechten kam es kalt vor. Paxton stellte fest, dass er seine Konzentration auf die Wahrnehmung der einen oder der anderen Hand richten konnte: „The Mind can travel in the Body.“

Der Zeit weit voraus

Und das tat er als Tänzer, fühlte seine Wirbelsäule und wie sie den Körper aufrichtete und seine Dreh- oder Kippbewegungen gestattete. Ging dem nach, denn da der Körper jahrzehntelang leben konnte, wie Paxton überlegte, sollte man seine Knochen vorsichtig behandeln und nicht vorzeitig abnutzen.

Steve Paxton wurde am 21. Januar 1939 in Phoenix, Arizona, geboren und war ein Turner und Athlet, bevor er entdeckte, was ihn am stärksten interessierte: das Tanzen.

Nachdem er von 1962 bis 1965 neben den postmodernen Experimenten auch in der Merce Cunningham Dance Company und anschließend noch ein Jahr bei José Limon getanzt hatte, entwickelte er 1972 seine noch heute gelehrte, fabelhafte „Contact Improvisation“. Rutschen, Rollen, das vertikale Momentum in einen horizontalen Schwung umleiten, Hebungen, Gewichtsverlagerungen, Auffangen des Partners, darin besteht das Abenteuer dieser Improvisation mit Masse, Schwerkraft, Energie, Momentum, Spannung und absoluter Konzentration auf das Unvorhersehbare. „Ich habe nur wenig muskuläre oder mentale Erinnerung an das, was ich gerade getanzt habe“, so beschrieb Paxton einmal das aufregende Gefühl, im Flow der Improvisation zu sein, „unbewusst, fragil, schnell, eine Ahnung der eigenen wilden Natur“. Theoretische Überlegungen zu seiner Kunst veröffentlichte er in seiner Zeitschrift „Contact Quarterly“.

In den Achtzigerjahren brach er in England zu einem neuen Experiment auf, das einmal mehr bewies, wie weit er seiner Zeit voraus war: Bei dem Projekt „Touchdown UK“ arbeitete er mit Sehbehinderten.

In den Neunzigerjahren lagen seine legendären Wiener Auftritte auf Einladung Karl Regensburgers. Acht Festivalausgaben, acht Sommer lang kam Paxton, lehrte, sprach und trat auf, und das sogar, Sternstunde, mit Trisha Brown. Natürlich improvisierten die beiden zusammen.

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