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#An jenem Tage…

An jenem Tage…

Indem der Schatten einer dieses sagte,
Weinte der andre so, daß ich vom Mitleid
Ohnmächtig wurde, gleich als ob ich stürbe.

Mentre che l’uno spirto questo disse
L’altro piangeva sì che di pietade
Io venni men così com’io morisse.

(Inferno V, 139–141)

Was von der Dante-Lektüre des deutschen Autors Arno Schmidt drei Jahre nach Kriegsende im Oktober 1948 übrig blieb, hielt seine Frau Alice in ihrem Tagebuch fest. Beim Vorlesen der „einzelnen furchtbaren Martern in Dante’s Inferno“ hielt sich ihr Mann die Blätter mit dem Text „dicht vors Gesicht. Ich sehe aber doch, daß er weint. Muß dieser Dante ein Reptil gewesen sein!“

Welchen Dante meint Alice Schmidt, den Autor der Commedia oder die Dante-Figur an der Seite Vergils? Die jedenfalls zeigt sich ganz anders als der weichherzige Schmidt, was dieser in einem fiktiven Brief an Dante – Adresse: „Reichssicherheitshauptamt, Abt.: Einrichtung von Lagern“ – auch grell beleuchtet. Etwa die Szene in Canto 32, wenn Dante an den bis zum Hals im Eis Eingefrorenen vorbeiläuft, einem von ihnen dabei gegen den Kopf tritt und ihm, weil er seinen Namen nicht nennen will, ganze Haarbüschel ausreißt. Oder in Canto 33: Einer der Festgefrorenen, dessen Gesicht dem bitterkalten Wind ausgesetzt ist, bittet Dante, ihm die Eiskruste von den Augen zu entfernen, damit seine Tränen nicht mehr dadurch gestaut werden und nach innen abfließen. Dante verspricht es ihm, falls ihm der Verdammte dessen Namen nennt. Das geschieht auch, aber Dante geht trotzdem weiter, ohne die Kruste zu entfernen: „Höflich war es, an ihm grob zu handeln.“ Unter den Verrätern in diesem Teil der Hölle, deren eiskalten Herzen die arktische Umgebung entspricht, erscheint Dante nicht als Fremdkörper. Jedenfalls prallen die wiederholten Vorwürfe der Verdammten, er sei mitleidlos, an dem tatsächlich ungerührten Jenseitsreisenden ab.

Das sah zu Beginn noch ganz anders aus. Im fünften Canto, im zweiten Kreis der Hölle, steht eine Szene, die – neben der späteren entsetzlichen Ugolino-Episode – zu den berühmtesten dieser Reise gehört. Dante und Vergil begegnen einem luftigen Schwarm von Seelen, die wegen aus Liebe begangener Verfehlungen verdammt worden sind. Da sind Dido, Kleopatra, die schöne Helena und viele andere mehr, die den Besuchern wie wilde Kraniche vorkommen (Brecht wird dieses Bild viel später aufgreifen). Doch als Dante zwei dieser Seelen aus der Schar herausruft, erinnern diese ihn an Tauben, an die Stelle der vorigen Assoziation von kranichhaft freier Einsamkeit tritt hier die Beständigkeit. Und die Geschichte von ihrer Liebe und dem aus Eifersucht an ihnen begangenen Mord, die nun von Paolo und Francesca berichtet wird, ergreift Dante so sehr, dass er den Kopf senkt und schweigt. Er empfinde Mitleid, sagt er dann, sei zu Tränen gerührt, aber er möchte doch noch wissen, wie es zur Liebesanbahnung zwischen Paolo und dessen Schwägerin Francesca gekommen sei – und hört dann von der gemeinsamen Lektüre eines Lancelot-Romans. Die heimlich ineinander Verliebten kommen bis zum Kuss, den Lancelot und Guinevere tauschen: „Verführer war das Buch und der’s geschrieben. An jenem Tage lasen wir nicht weiter.“

Erst diese Details rufen in Dante die stärksten Affekte hervor: Er fällt in Ohnmacht, „Così com’io morisse“ (wie wenn ich gestorben), und bleibt ausdrücklich in derselben Metaphorik, wenn er seinen fallenden Körper noch einmal mit einem Leichnam vergleicht – der eigentlich lebende Reisende durchs Jenseits signalisiert damit eine besondere Nähe zu diesen Toten.

Warum? Was ist es, das ihn gerade hier so ergreift? Die Szene spiegelt einige andere wider, denn dass Lesen und Liebe eng verschwistert sind, ist keine Erfindung Dantes. Schon in Wolframs „Titurel“ und dem weiter verbreiteten „Jüngeren Titurel“, beide im dreizehnten Jahrhundert verfasst, sorgt eine kapriziöse junge Dame ungewollt für den Tod des Geliebten, weil sie ihn ausschickt, einen zu- und wieder davongelaufenen Hund zu jagen, auf dessen Halsband ein Roman geschrieben steht – Sigune, so heißt die Dame, war mit der Lektüre noch nicht fertig, und solange sie nicht weiß, wie es ausgeht, zählt nichts anderes für sie. Die Suche nach dem Hund wird ihr Geliebter nicht überleben. Dante jedenfalls, der nirgendwo in der Commedia mitfühlender gezeigt wird als gerade hier, scheint sehr genau zu wissen, was das Lesen mit uns macht und wie es uns über alle Grenzen hebt, als wäre das gar nichts – und koste es das Leben.

Der leidenschaftliche Leser Arno Schmidt hätte das bemerken können.

Alle bisherigen Folgen unserer Serie finden Sie unter www.faz.net/dante.

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