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#Angela Merkel hat der EU ihren Stempel aufgedrückt

Angela Merkel hat der EU ihren Stempel aufgedrückt

Ratspräsidentschaften der Europäischen Union werden oft überschätzt. Zwei Ausnahmen gibt es: wenn ein großes Land den Club der 27 führt und wenn eine Krise zu bewältigen ist. In den zurückliegenden sechs Monaten kam beides zusammen. Die Europäische Union musste eine Antwort auf die wirtschaftlichen Verwerfungen finden, die mit der Corona-Pandemie einhergehen, und Deutschland saß auf dem Fahrersitz. Das war, so viel lässt sich sagen, eine glückliche Fügung. Zwar weiß niemand, wie das 750 Milliarden Euro schwere Hilfspaket wirken wird. Doch wäre es kaum zustande gekommen, wenn nicht Berlin in Vorleistung gegangen wäre und die anderen mitgezogen hätte.

Man muss sich nur der Debatte im Frühjahr erinnern. Paris forderte Corona-Bonds, Berlin war strikt dagegen. Die Niederlande boten eine Milliarde Euro an, um Spanien und Italien zu helfen. Über Nacht war die Freizügigkeit im Schengen-Raum perdu, und die Mitgliedstaaten rangen plötzlich um Mundschutzmasken und Beatmungsgeräte. Erst als Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Macron im Mai gemeinsam einen Plan schmiedeten, gaben sie der Union wieder eine Perspektive: 500 Milliarden Euro, finanziert durch gemeinsame Schulden.

Deutschland setzte dann während seines Vorsitzes alles daran, diese Idee in die Tat umzusetzen. Das erwies sich als der schwierigere Teil. Beim Europäischen Rat im Juli brachen Konflikte offen aus, die seit langem schwelten: die „Sparsamen“ im Norden gegen die Staaten im Süden, der alte Westen gegen Polen und Ungarn, deren Regierungen Macht über Recht setzen. Der Nord-Süd-Konflikt wurde mit einem finanziellen Kompromiss beigelegt. Dagegen hielt der Ost-West-Konflikt den Staatenverbund bis vor kurzem in Atem. Mit Geschick, aber auch mit Bestimmtheit wandte Berlin hier die nächste Krise ab und löste die Haushaltsblockade auf. Die Union hat jetzt ein neues Instrument, um wirksam gegen Betrug und Korruption vorzugehen.

Undenkbarer Eingriff in nationale Souveränität

Daneben schob Deutschland andere wichtige Dinge an oder schloss Gesetzgebungsverfahren ab, etwa die viel engere Abstimmung der Mitgliedstaaten in der zweiten Corona-Welle, von Reisebeschränkungen bis zu Impfstrategien. Auf dem Feld der inneren Sicherheit müssen terroristische Inhalte endlich binnen einer Stunde gelöscht werden. Ein Staat kann das einem Internetbetreiber in einem anderen Staat direkt anordnen – ein bis dato undenkbarer Eingriff in nationale Souveränität. Und, um ein drittes Beispiel zu nennen, die Außen- und Sicherheitspolitik: Erstmals haben sich die Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Bedrohungsanalyse verständigt.

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Neben Licht gibt es freilich auch Schatten. Die Konferenz für die Zukunft Europas kam nicht voran, Rat und Parlament stecken immer noch fest im Streit über den Vorsitz. Alle Initiativen Berlins gegenüber der Türkei blieben fruchtlos. Und auf dem westlichen Balkan entstand ein neues Problem: Bulgarien blockiert den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien. Konflikte über Sprache, Identität und Geschichte entwickeln schnell eine Eigendynamik, gerade auf dem Balkan. Berlin trägt daran keine Schuld. Es zeigt sich aber, wie begrenzt der Einfluss selbst des größten Mitgliedstaats ist.

Keine Verhandlungen über Asylreform

Auch in der Asyl- und Migrationspolitik kam Deutschland nicht nennenswert voran. Zwar liegt nun ein Vorschlag der EU-Kommission auf dem Tisch, der einem konstruktiven und flexiblen Interessenausgleich zwischen allen Mitgliedstaaten dienen soll. Doch die Verhandlungen darüber haben nicht einmal begonnen. Bundesinnenminister Horst Seehofer konnte die Kollegen während seines Vorsitzes nicht ein einziges Mal persönlich treffen. Alle Räte mussten als Videokonferenz stattfinden. Da trugen die Minister bekannte Positionen vor. Wie echte Kompromisse zustande kommen, war hingegen beim Europäischen Rat im Juli zu studieren: durch vertrauliche Treffen in kleiner Runde, zunehmenden Schlafentzug und eine Gruppendynamik, der sich niemand entziehen kann.

Merkel in Nazi-Uniform abgebildet

Es dürfte das letzte Mal gewesen sein, dass Angela Merkel der EU ihren Stempel aufgedrückt hat. Als Kanzlerin verfolgte sie seit 2005 keine europäische Vision wie Adenauer und Kohl, aber sie bewältigte gleich drei Krisen: die Überschuldung nach der Lehman-Pleite, die Flüchtlingskrise und nun die Pandemie. In der vierten Krise, dem Brexit, bewies sie Stärke, indem sie das Feld dem EU-Unterhändler überließ und sich nicht, wie London es bis zuletzt versuchte, in bilaterale Verhandlungen verstricken ließ.

Vieles erzeugte Widerspruch und Widerstand. Hin und wieder wurde sie sogar in Nazi-Uniform abgebildet. Trotzdem verfügt Merkel nach 15 Jahren im Amt über ein Maß an Erfahrung, Ansehen und Autorität, das ohnegleichen ist. Oft wird nun in Brüssel danach gefragt, wer ihr denn nachfolge. Es schwingt die Sorge mit, dass mit ihrem Abschied im kommenden Jahr auch die Stabilität der Union ins Wanken geraten könnte. Die beiden Regierungschefs mit der größten Erfahrung nach der Kanzlerin werden die Lücke jedenfalls nicht füllen können: Viktor Orbán und Mark Rutte.

Thomas Gutschker

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