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#Ein Bild, das uns zum Wanken bringt

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Ein Bild, das uns zum Wanken bringt

Die Armen. Da standen sie vor einer Schlucht, die großartig ist, gewaltig, umwerfend. Aber ihnen war dieser tiefe Riss quer durch die Landschaft einfach nur im Weg, als sie 1540 als erste Weiße vor den Abgründen des Grand Canyon standen. Nichts lag den spanischen Eroberern ferner, als sich der Natur hinzugeben. Sie brauchten Wasser. Aber der Fluss, der in anderthalb Kilometern Tiefe vorbeirauschte, ein Rinnsal bloß, wie man von oben meinen musste, war nicht zu erreichen. Drei Tage lang suchte Don García López de Cárdenas mit seinen Soldaten nach einer Möglichkeit zum Abstieg. Vergebens. Enttäuscht kehrten sie um. Kurz vor dem Verdursten. Mit einer solchen Landschaft wussten die Spanier nichts anzufangen.

Freddy Langer

Freddy Langer

Redakteur im Feuilleton, zuständig für das „Reiseblatt“.

Der schwindelerregende Anblick der jähen Abgründe und Steilhänge, der abgeflachten Kegel und spitzen Säulen überforderte so manche Besucher – auch die Künstler. Denn die so grandiose wie erschreckende Landschaft zwingt dem Betrachter eine neue Perspektive auf, nämlich nach unten. Die ersten Fotografen, die nach Ende des amerikanischen Bürgerkriegs die frühen Expeditionen begleiteten, waren damit überfordert, das extreme Licht zwischen gleißender Helle und tiefdunklen Schatten auf ihren Glasplatten auszugleichen. Sie wussten nicht, wo überhaupt sie die Kamera postieren sollten. Nur am Grund der Schlucht konnten sie den Konventionen der Landschaftsfotografie folgen, denn von dort sah der Grand Canyon kaum anders aus als jede Klamm eines engen Flusstals. Nur eben gewaltiger.

Das Problem der Perspektive

Thomas Moran gehörte Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu den ersten, die den Eindruck unmittelbarer Ergriffenheit auf die Leinwand übertrugen. Sein Bild von 1873 zeigt das Auf und Ab des roten Steins als eine Fieberkurve der Gefühle, über der sich aus finsterem Himmel ein Regensturm entlädt. Doch obwohl das Bild „Der Abgrund des Grand Canyon“ heißt, gelingt auch ihm der Blick nach unten nicht, vielmehr wirkt das Gewitter aus Stein wie gestaffelte Bergketten – und noch steht der Betrachter auf festen Füßen und mit sicherem Abstand vor dem Rand einer Klippe. Erst weit entfernt ist als zarter silberner Streifen ein winziges Stück des Flusses zu sehen. „Es ist fürchterlich“, kommentierte dennoch das Magazin „Scribner’s Monthly“ das Bild. „Der Betrachter sehnt sich nach Erholung, Ruhe und Trost.“ Was die amerikanische Regierung nicht davon abhielt, das Gemälde für 10.000 Dollar zu erwerben, um es im Capitol aufzuhängen: als Symbol der Einzigartigkeit und Unverdorbenheit der amerikanischen Urnatur.

Sehenswürdigkeiten beginnen zu tanzen: Brooklyn Bridge (2003)


Sehenswürdigkeiten beginnen zu tanzen: Brooklyn Bridge (2003)
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Bild: Thomas Kellner

Eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Problem der Perspektive, dem Phänomen von Tiefe und Weite zugleich, ließ indes auf sich warten – bis David Hockney 1982 vom Powell Point aus die Schlucht in 60 Einzelaufnahmen zerlegte. Mit dem Fotoapparat tastete er den Grand Canyon ab und fügte die Abzüge zunächst zu einem kleinen Tableau zusammen, später zu einer Collage von mehr als zwölf Metern Breite. 1998 übertrug er die Aufnahmen in ein riesiges Gemälde: „A Bigger Grand Canyon“, zusammengesetzt aus 60 Leinwänden, jede ihr eigenes Bild, jede mit ihrer eigenen Perspektive. So wandert der Blick von links nach rechts und springt nach oben und unten, ohne dass das Auge je Halt finden würde. Hockney, der die optischen Erkenntnisse der Renaissance und ihren Einfluss auf die europäische Kunst gern als die Diktatur der Zentralperspektive bezeichnet, hatte eine Möglichkeit gefunden, jedem Punkt der Schlucht die gleiche Bedeutung zu geben.

Und nun Thomas Kellner. Sein Panorama lehrt uns, wie wenig von diesem Stück erhabener Natur mit nur einem Augenblick zu erfassen ist. Auch bei Kellner gibt es keine zentrale Perspektive mehr, vielmehr 2160 verschiedene Perspektiven. Das nimmt dem Betrachter den Halt. Dass Thomas Kellner die Welt zum Schwanken bringt, kennt man von seinen Architekturaufnahmen. Da meint man durch sein Zerlegen der Gebäude in einzelne Bildsplitter und durch mehrfaches Kippen der Kamera begännen die berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Welt – vom Eiffelturm bis zur Brooklyn Bridge – zu wackeln, zu schaukeln, sogar zu tanzen.

Zerlegen, kippen, zusammensetzen: Tower Bridge (1999)


Zerlegen, kippen, zusammensetzen: Tower Bridge (1999)
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Bild: Thomas Kellner

Die Architektur gerät aus den Fugen. Und je hemmungsloser Kellner dafür die Gebäude zerlegte, desto kühner wurden die Begriffe, die man für seine Bilder fand: von kubischer Orchestrierung über radikalen Konstruktivismus, Dekonstruktivismus und Rekonstruktivismus bis zu, von der Fotohistorikerin Irina Chmyreva geprägt, analytischem Synthetismus. Aber vor dem Grand Canyon zeigte er Demut. Dort machte er sich ganz zum Diener der Landschaft und bildet sie ab ohne jeden spielerischen Eingriff. Ganz konzentriert. Ganz ernst. Und uns bleibt nichts, als die einzelnen Bildteilchen zu betrachten, wie in stiller Andacht, bis nun wir zu schwanken beginnen. Das Großformat ermöglicht ein Eintauchen in das Bild. Und es lässt uns das Gefühl des Kleinseins auskosten, der eigenen Bedeutungslosigkeit angesichts des unermesslichen Landschaftsraums. Wie die Spanier vor fast 500 Jahren, so stehen nun wir der Schlucht fassungslos gegenüber. Doch wir haben gelernt, dieses Gefühl mit Wonne auszukosten.

Ausstellung: „Thomas Kellner – The Big Picture“. Kulturbahnhof Kreuztal. Bis zum 11. Dezember 2020.

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