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#Ein Sherlock Holmes des Digitalzeitalters

Ein Sherlock Holmes des Digitalzeitalters

Einer alleinstehenden Person stehen laut Hongkonger Sozialwohnungsbau genau zwanzig Quadratmeter Wohnraum zu. Die Stadt platzt aus allen Nähten, zieht aber weiterhin wie ein Magnet die Menschen an. Das Stadtbild verändert sich rasant, die Preise steigen, Alteingesessene werden an den Stadtrand verdrängt und Arbeiter nurmehr als austauschbare Ersatzteile betrachtet. Das legt zumindest das Szenario im Hintergrund von „Die zweite Schwester“ nahe, des zweiten ins Deutsche übersetzten Romans von Chan Ho-kei.

Der Autor, Softwareingenieur und Gamedesigner, lebt inzwischen in Taiwan, doch seine Geburtsstadt ist in seinen Werken die heimliche Hauptfigur. Sein Gebüt „Das Auge von Hongkong“ brachte ihm 2016 Preise und den internationalen Durchbruch ein. Darin laufen sechs Fälle zusammen, anhand derer sich ein Inspektor auf seinem Sterbebett an die bedeutendsten Momente in der Geschichte der Metropole erinnert.

Zu Tode geschuftet

In „Die zweite Schwester“ hört der Ermittler auf den Namen N. Ein Einzelgänger, zufrieden in Jogginghosen eingeigelt in seiner ungelüfteten Wohnung. Aber er ist auch ein begnadeter Hacker, ein Sherlock Holmes des Digitalzeitalters. Die Bibliotheksangestellte Nga-Yee sucht ihn im Herbst 2014 auf, als gerade die Regenschirm-Proteste eskalieren. Ihre kleine Schwester hat sich vom Fenster ihrer Wohnung aus in den Tod gestürzt, nachdem sie auf einer Chatplattform Opfer einer Verleumdungskampagne wurde.

Chan Ho-kei: „Die zweite Schwester“. Kriminalroman.


Chan Ho-kei: „Die zweite Schwester“. Kriminalroman.
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Bild: Atrium Verlag

Chan Ho-kei holt weit aus, um zunächst den Werdegang der Schwestern zu erzählen, und schneidet dabei fein säuberlich um die Psychologie herum. Er beschreibt die Figuren ausschließlich anhand ihrer Lebensumstände, beginnt bei den Großeltern, die einst als Wirtschaftsflüchtlinge aus Festlandchina nach Hongkong kamen, sich dort eine Existenz aufbauten und eine Familie gründeten, und leitet dann über zur zweiten Generation, die sich für den Traum eines besseren Lebens für die Kinder buchstäblich zu Tode schuftet.

Dominik Graf aus dem Off

Zusammenfassend lässt sich „Die zweite Schwester“ als Amalgam aus Gesellschaftsroman und Tech-noir beschreiben, aber eigentlich wechselt er ständig den Modus: Vom Familienepos wird er zur Detektivgeschichte, bei der die stromlinienförmige Sprache einen immer tiefer in die Suche nach dem anonymen Verfasser eines besonders garstigen Online-Posts hineinzieht, und auf halber Strecke schließlich zum Rachethriller.

Die virtuos in der Schwebe gehaltenen Handlungsfäden streben auf einen Knotenpunkt hin, den man zwar antizipiert – aber im Leben nicht so, wie es dann tatsächlich kommt. Zum einen wird „Die zweite Schwester“ immer tech-intensiver. Wie N routiniert seine Gadgets erklärt, das könnte man sich in einer Verfilmung hervorragend mit der lakonischen Erzählstimme von Dominik Graf aus dem Off vorstellen. Aber über genau diesen Weg nähert sich Chan Ho-kei zum anderen auch dem emotionalen Kern seiner Figuren.

Die großen Baustellen der Gesellschaft 

Sie erscheinen als Repräsentanten einer kollektiv aufgerauten Psyche, ihre Online-Präsenzen verraten – ob intendiert oder nicht – wesentlich mehr, als sie von Angesicht zu Angesicht eingestehen würden. Auf dem beengten Raum eines Transporters, von dem aus N und seine Klientin ihr Opfer mit Hilfe von Drohnen und ausgefuchster Spähsoftware observieren, wird das Finale schließlich zum Schauplatz brutaler Konfrontationstherapie.

Dabei nutzt Chan Ho-kei die Möglichkeiten seines Hackers, der in den digitalen Identitäten der Leute wühlt, wie ein Brennglas, um die großen Baustellen der Gesellschaft zu identifizieren: die Unterwürfigkeit gegenüber einem völlig entfesselten Kapitalismus, der Familien einander entfremdet und Individuen zu Egoisten werden lässt, der Mobbing fördert und stets nur denjenigen begünstigt, der bereit ist, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten.

Gerade vor dem Hintergrund der Regenschirm-Bewegung lesen sich die Worte, die der Autor seinen Figuren in den Mund legt, wie direkte Kritik nicht nur an der Regierung, eher am ganzen System Hongkong: „Sie sieht sich selbst als kleines Rädchen im Getriebe, dessen Aufgabe es ist, jeglichen Ärger abzuwenden, ehe die Chefs davon erfahren. Wir werden erstickt von Leuten wie ihr, Leuten, die Angst davor haben, Wirbel zu machen. Leute wie sie sind der Grund dafür, weshalb dieses Land von innen verrottet.“

Chan Ho-kei: „Die zweite Schwester“. Kriminalroman. Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld. Atrium Verlag, Zürich 2021. 592 S., geb., 25,– €.

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