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#Flucht durch Feindesland

Vor einem Jahr, als Millionen Menschen aus der Ukraine flohen, machte sich auch Polina auf den Weg. Die junge Frau lebte damals in ihrer Heimatstadt Donezk, tief im Donbass, dem Industrierevier in der Ostukraine. Sie war damit östlich der Frontlinie. In Donezk war schon 2014 unter russischer Steuerung eine der zwei separatistischen „Volksrepubliken“ gegründet worden. Wer jetzt dort raus wollte, dem blieb gar nichts anderes übrig, als erst einmal weiter nach Osten zu fliehen. Ins Feindesland, nach Russland.

Gerhard Gnauck

Politischer Korrespondent für Polen, die Ukraine, Estland, Lettland und Litauen mit Sitz in Warschau.

Dort angekommen, reiste die Frau nach Norden, nach Kursk. Und von dort weiter mit dem Zug nach Moskau, dann Richtung Westen, nach St. Petersburg, und von dort schließlich mit dem Bus in die Stadt Iwangorod, das bedeutet „Iwanstadt“. Wer sie erreicht hat, kann über den Grenzfluss auf die andere Seite blicken. Dort liegt die Grenzstadt Narva. Mit ihr beginnt die Europäische Union, genauer gesagt: Estland. Knapp 2000 Kilometer von Donezk entfernt.

Auf der alten Burg am östlichen Flussufer weht die russische Fahne, auf der Zwillingsburg am westlichen Flussufer das estnische Blau-Schwarz-Weiß und daneben die Europaflagge.

In der verschneiten Stadt Narva treffen wir Polina Kosse. Sie ist 27 Jahre alt und trägt einen Anorak in einer grellroten Leuchtfarbe, als wolle sie jedem Flüchtling, der bei Narva die Grenze überquert, deutlich machen: Kommt zu mir, ich bin hier, um euch zu helfen. Polina, eigentlich Programmiererin, ist bald nach ihrer Ankunft Flüchtlingshelferin geworden – „Freiwillige“ nennt man das hier. Sie ist es bis heute. Inzwischen hat sie sogar eine bezahlte Stelle bei der hiesigen Hilfsorganisation „Freunde Mariupols“, benannt nach der Großstadt im Donbass, die über Monate von russischen Truppen in Grund und Boden bombardiert wurde. Bald wird Polina einen eigenen Schreibtisch bekommen, hier direkt am Grenzübergang „Narva-1“. Sie wird bei ihrer Arbeit Tag für Tag nach Russland hinüberschauen, das Land, das ihr die Heimat gestohlen hat.

Polina Kosse vor dem Grenzübergang zu Russland


Polina Kosse vor dem Grenzübergang zu Russland
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Bild: Gerhard Gnauck

Das ewige Fliehen und Weiterziehen von Menschen ist zu ihrem Lebensthema geworden. „Der Mensch ist ein Flüchter“, heißt es in einem der Pommern-Romane von Christine Brückner, die 1945 vor den sowjetischen Truppen aus ihrer Heimat fliehen musste und danach nie mehr so richtig Wurzeln schlug. Pommerland ist abgebrannt, heißt es in einem alten Kinderlied. Auch so ein schwermütiges Land an der Ostsee. Wie Estland.

Polina ist froh, dass sie sich in diese Arbeit hineingefunden hat. „Da kann man Menschen helfen und der Gesellschaft Nutzen bringen“, sagt sie mit einem schüchternen Lächeln. Sie sei „introvertiert“, sagt sie. Ihre Gefühle behält sie für sich und berichtet lieber von ihrer Arbeit. Gestern etwa kam eine Frau über die Grenze. Polina hat sie in Empfang genommen und zum Zug nach Tallinn gebracht. Sie wollte nach Deutschland. Am Tag davor war es ein Pärchen, Anfang zwanzig, ihr Ziel: Finnland. Vorige Woche ein Ehepaar mit Kind, dazu drei Pitbull-Hunde, die hat ihr Kollege in Empfang genommen und ihnen ein Nachtlager besorgt. Sie wollten nach Norwegen. „Und einmal“, sagt Polina, „kam ich zum Grenzübergang, da stand dort alleine eine 90 Jahre alte Frau in ihrem Rollstuhl. Der russische Freiwillige, der sie aus St. Petersburg gebracht hatte, steckte noch in der Grenzkontrolle.“

„Mach den Mund nicht auf, dann lassen sie dich in Ruhe“

In der hohen Zeit des Flüchtlingsstroms, im vorigen Frühjahr, kamen hier manchmal 300 Ukrainer am Tag über die Grenze. Laut Behörden sind bislang 125.000 Ukrainer auf verschiedenen Wegen eingereist. 68.000 davon sind in Estland mit seinen insgesamt nur 1,3 Millionen Einwohnern geblieben. Pro Kopf sind das mehr als dreimal so viele Flüchtlinge wie in Deutschland. Solidarität mit der angegriffenen Ukraine ist den Menschen in Estland wichtig: An der jeweiligen Wirtschaftskraft gemessen, leistet kein Staat des Westens so umfangreiche Hilfe – auch Militärhilfe – wie Estland. Die Nachbarn Lettland und Litauen folgen auf den Plätzen zwei und drei. Die Bürger der baltischen Republiken wissen, was es bedeutete, jahrzehntelang eine Kolonie Moskaus zu sein.

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