Nachrichten

#Häkeln für die Weltmeere

Häkeln für die Weltmeere

Die Herstellung eines so labbrigen Gebildes wie Seetang verlangt nach einem weichen Garn und einer dicken Häkelnadel. Für die stabileren Korallen da­gegen verwendet man besser einen synthetischen Faden und eine dünne Nadel. Ob die Handarbeit mit einem Ring oder einer Reihe aus Luftmaschen beginnt und wie viele feste Maschen anschließend zu­genommen werden müssen, damit die für die Formen der Meereslebewesen charakteristischen gekräuselten Ränder entstehen, legt eine Anleitung ebenfalls fest. Das von Margaret und Christine Wertheim konzipierte Papier bildet die Grundlage einer Ausstellung, die das Museum Frieder Burda in Baden-Baden in ein wollenes Korallenriff verwandelt.

Im vergangenen Sommer hatten die australischen Zwillingsschwestern dazu aufgerufen, „für die Weltmeere zu häkeln“. Die fast ausschließlich weibliche Resonanz war enorm: Nach und nach trafen insgesamt vierzigtausend Objekte ein, in denen sich natürliche Diversität spiegelt. Denn keines davon gleicht dem anderen. Nicht nur weil sie eben nicht so ebenmäßig aussehen wie industriell produzierte Ware, sondern auch weil die Herstellerinnen den kreativen Spielraum, den ihnen das mitgelieferte Regelwerk bei aller Strenge ließ, weidlich ausgenutzt haben.

Die Künstlerinnen sind anwesend: Christine und Margaret Wertheim.


Die Künstlerinnen sind anwesend: Christine und Margaret Wertheim.
:


Bild: Museum Frieder Burda

Diese verschwenderische Fülle an Einzelobjekten haben die 1958 in Brisbane geborenen Wertheims im ersten Obergeschoss des Museums wie ein aus mehreren Inseln bestehendes Ökosystem arrangiert. Das Auge weiß nicht, wohin es zuerst schauen soll. Blütenformen, Röhrenbündel, fingernde Tentakel, knorriges Geäst, Salatblätter, Schwämme, Pilze, Pälmchen und Phalli wuchern in alle Richtungen und strahlen in den herrlichsten Farben. Dass die spotartig beleuchteten Mikrohäkelorganismen aus gedämpftem Licht hervorscheinen, verstärkt den Eindruck, auf dem Meeresgrund zu wandeln.

„Satellite Reefs“

Der angesichts dieser Pracht überraschend spröde Ausstellungstitel „Wert und Wandel der Korallen“ mag damit zu tun haben, dass sich die Künstlerinnen auch wissenschaftlich mit ihrem Thema auseinandersetzen. Ihr 2003 in Los Angeles gegründetes „Institute für Figuring“ beschäftigt sich unter anderem mit Fragen der sogenannten hyperbolischen Geometrie, die im Gegensatz zur euklidischen Geometrie normalerweise nicht an Schulen gelehrt wird. Dabei geht es um vergrößerte Oberflächen von Formen, wie man sie nach Auffassung der Wertheims in den Riffs findet. Nachdem die Mathematikerin Daina Taimina das Häkeln 1997 zu einer für die Darstellung solcher Formen hervorragend geeigneten Technik erklärt hat, findet die Theorie in den Wollkorallen jetzt ihren poetischen Ausdruck. Obwohl es in diesem Fall eher auf Fingerfertigkeit ankam als auf mathematische Kenntnisse, kann man das Häkeln damit auch nicht länger auf das Klischee eines typisch weiblichen Handwerks reduzieren.

Kunst wie unter Wasser: aus der Ausstellung.


Kunst wie unter Wasser: aus der Ausstellung.
:


Bild: Museum Frieder Burda

Die ästhetische Überwältigung durch die Nadelarbeiten dient aus einem weiteren, noch drängenderen Grund nicht dem reinen Selbstzweck, sondern hat tieferen Sinn. Sie erinnert daran, dass die Schönheit der natürlichen Vorbilder be­droht ist. Die Wertheims wissen, wovon sie reden: Das Great Barrier Reef liegt gewissermaßen vor ihrer Haustür. Da­rauf, dass sich der Korallenbestand dort in Folge der globalen Erwärmung seit den Fünfzigerjahren halbiert hat, re­agierte jetzt sogar die Regierung und verkündete passenderweise am Tag der Ausstellungseröffnung, eine Milliarde australische Dollar in den Schutz des 2300 Kilometer langen UNESCO-Naturerbes investieren zu wollen.

Margaret und Christine Wertheim, die sich unabhängig voneinander auch als – preisgekrönte – Literatinnen und wissenschaftliche Autorinnen einen Namen gemacht haben, tragen ihr „Crochet Coral Reef“ seit 2005 in alle Welt. Die Baden-Badener Version ist das jüngste und mit viertausend zum Teil jenseits der deutschen Grenzen beheimateten Teilnehmerinnen bislang weitaus größte der sogenannten „Satellite Reefs“, deren Produktion in den Händen lokaler Unterstützerinnen liegt. Die „Core Collection“ wiederum versammelt die freilich ebenfalls mit der Hilfe vieler Auftragshäklerinnen ge­fertigten Kreationen der Wertheims, die nicht zuletzt von der Venedig-Biennale 2019 in guter Erinnerung sind.

F+Newsletter – das Beste der Woche auf FAZ.NET

Samstags um 9.00 Uhr

ANMELDEN


Wie ein Renaissance-Maler

Im Erdgeschoss werden entsprechende Werkbeispiele an Wänden, auf Sockeln und unter Vitrinen wie traditionelle Tafelbilder, Friese und Skulpturen präsentiert. Zum Häkelgarn umfunktioniert wurden dabei auch Materialien wie Vi­deobänder oder Hühnerdraht. Nicht selten reichern Abfallprodukte der Konsumgesellschaft die Installationen an: Kabelbinder, Ring-Pull-Verschlüsse von Ge­tränkedosen, Pla­stiktüten und andere Dinge, die auf die Mülldeponie gehören, stattdessen aber die Ozeane verschmutzen.

Neben der unmissverständlichen Botschaft vermittelt die Häkel-Kunst der Geschwister Wertheim einen gedehnten Kunstbegriff, der die Vorstellung eines einzelnen, meist männlichen, Künstlergenies unterläuft, indem er die Handwerkerinnen aus der Anonymität befreit. Angefangen damit, dass alle Beteiligten na­mentlich genannt werden (und dies eine Museumswand füllt). Hinreißend und von eigenem künstlerischen Wert sind darüber hinaus die vielen Zeichnungen, Collagen und Essays, die die Absenderinnen ihren Handarbeiten oft beigefügt haben. Jetzt gehören sie zu den Exponaten der Ausstellung und werden dort als „Holy Documents“ präsentiert.

Das Werk der Wertheims hat also viele Autorinnen. Selbst bleiben sie aber Ideengeberinnen, Kuratorinnen und Arrangeurinnen, die das Wachstum des Riffs nicht zuletzt in zahllosen Video-Konferenzen dirigiert haben und die insofern nicht anders arbeiten als ein Renaissance-Maler in seiner Werkstatt. Es gibt zwei Chefinnen. Und das ist gut so.

Margaret und Christine Wertheim: Wert und Wandel der Korallen. Im Museum Frieder Burda; bis zum 26. Juni 2022. Der Katalog kostet 39 Euro.

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!