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#„Museum of Uncounted Voices“ in Freiburg

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Kann ein Museumsraum thea­tralisch sein? Die exilrussische Kulturmanagerin und Autorin Marina Davydova, vom kommenden Monat an auch Schauspielchefin der Salzburger Festspiele, wählt in ihrem neuen Stück „Museum of Uncounted Voices“ den repräsentativ-didaktischen Schausaal, um angesichts von Krieg, vor allem in der Ukraine, und Vertreibung, auch ihrer eigenen, polyphon konkurrierende Geschichtserzählungen miteinander zu konfrontieren. Davydova, die als Tochter eines Armeniers und einer Russin im aserbaidschanischen Baku aufwuchs, hatte während antiarmenischer Pogrome 1990 nach Moskau fliehen müssen. Die von ihr auch inszenierte Installation des „Museums“, in dem die Geister von Staaten, aber auch von Verfolgten temperamentvoll auf der Bühne streiten, erlebte im Theater Freiburg jetzt seine deutsche Erstaufführung.

Zunächst wird das Publikum in Sinovy Margolins Saal gebeten, wo Insignien des russischen Imperiums in Vitrinen prangen. Zu angedeuteten Anfangsakkorden von Tschaikowskys Erstem Klavierkonzert (das subtile Sounddesign besorgte Vladimir Rannev) belehrt die metallisch aus dem Schnürboden schallende Stimme von Odin Biron, Gott wache über Russland und das Land sei ausschließlich durch freiwillige Beitritte beziehungsweise durch die Wiedergewinnung angestammter Territorien expandiert, im Gegensatz zu westlichen Kolonialmächten. Die sich schrill steigernde Stimme schickt die Besucher auf die Sitzplätze, um Russlands Alaska einschließende Grenzen zu präsentieren, vorübergehende Gebietsverluste unter Lenin werden schluchzend vermeldet.

Es folgt im Stil der Sowjetpädagogik eine Lehrstunde der Nationen, die jeweils als Schränke mit traditionellen Kostümen und historischen Landkarten auftreten. In schmeichelndem Ton instruiert der unsichtbare Sprecher des ukrainischen Schranks die brav lauschende Schauspielerin Marina Weis, die als Dadydovas Alter Ego auftritt, das Moskauer Reich gehe auf die Goldene Horde der Mongolenherrscher zurück, weshalb es so wurzellos und nur auf Expansion aus sei und weshalb Putin die Ukraine zerstören wolle. Flammenprojektionen (Video: Oleg Mikhailov) erfassen die Bühne, aus Solidarität legt Weis die ukrainische Weste an und tanzt zu Fetzen des ukrainischen Liedes vom roten Schneeball, des Songs des nationalen Befreiungskampfes.

Vielsprachiges Stimmengewirr

Doch es meldet sich der belarussische Schrank mit seiner Landkarte und seinem Narrativ, dass es nämlich viel früher, als Teil des Großfürstentums Litauen, europäisch freiheitlich verfasst gewesen sei, dass sogar im 16. Jahrhundert das erste belarussische Buch gedruckt wurde, dann aber unter Peter dem Großen die belarussische Sprache zerstört und unter Stalin die belarussischen Intellektuellen umgebracht wurden. Als der ukrainische Schrank erwidert, die Belarussen, deren Land jetzt Panzer in die Ukraine schicke, hätten mehr Widerstand leisten müssen, klagt der belarussische, 2020 hätte alle Welt sein Land für den friedlichen Widerstand bewundert; ein Video der Massenproteste bespielt nun die Bühne.

Aus aktuellem Anlass greifen auch Museumsschränke des Transkaukasus in die Debatte ein, weisen ein weitgehend identisches Territorium als ihr jeweils angestammtes aus, wobei Armenien klagt, für seinen christlichen Glauben drohe ihm wie einst von den Türken blutige Verfolgung, Aserbaidschan von armenischen Verrätern in Kriegszeiten spricht und Georgien Putins Invasion von 2008 anprangert. Das vom auf der Bühne herumschreitenden Publikum interessiert, amüsiert und schließlich ratlos verfolgte Gespräch mündet in das Crescendo eines vielsprachigen Stimmengewirrs.

Bei symbolisch schummriger Beleuchtung erscheinen Bildnisse historischer Politiker – Lew Trotzki, Sergo Ordschonikidse, Mustafa Suphi –, die die Kakophonie der Nationalismen revolutionär überwinden wollten, mittels Terror, der sie dann selbst einholte. Die Lawine staatlichen Mordens vergegenwärtigen Fotos prominenter Gulag-Häftlinge und das chorische Lamento von Terror und Vertreibung Betroffener, es klagen die Adligen, die Intellektuellen, die Bauern, die Priester, die deportierten Völker, abermals als anschwellender Konkurrenzgesang um vorrangigen Opferstatus.

Davydovas „Museum“ zerlegt über zwei pausenlose Stunden die Gewissheiten, Gruppenansprüche aufgrund von einstiger Größe, aber auch der Opferstatus infolge Gruppenzugehörigkeit werden desavouiert. Authentisch erscheint allein das Einzelschicksal, wie die monologische Schlussszene unter dem Titel „Person“ anhand der Biographie der Autorin vorführt. Weis rekapituliert Davydovas späten Besuch in Baku, wo sie ihre Geburtsurkunde erneuern will, wo der Friedhof, auf dem ihre Eltern lagen, zerstört ist und wo die Behörden die Halbarmenierin nicht kennen wollen. Sie spreche kein Armenisch, nur Russisch, bekennt Weis, in der Perestroika sei ihr Baku provinziell vorgekommen, es habe sie nach Moskau gezogen, sie habe mittels Kultur an der Öffnung und Demokratisierung des Landes mitwirken wollen.

Kurz nach dem Beginn von Russlands Großinvasion in die Ukraine im vorigen Jahr wurde Davydova persönlich bedroht und musste zum zweiten Mal alles zurücklassen. Infolge der russischen Aggression sei ihr Russischsein nun vielerorts anstößig, stellt sie fest. Im Baltikum sei sie aufgefordert worden, nach Hause zurückzukehren und Putin zu stürzen. In Deutschland habe man sie bei einer Veranstaltung aufgrund ihres Geburtsortes als Aserbaidschanerin ankündigen wollen, im Rahmen des postkolonialen Diskurses, wie ihr erklärt wurde. Es sei paradox, so Weis: Dem russischen Staat gelte sie als Nationalverräterin, doch klänge ihr russische Poesie in den Ohren, und sie träume von Moskauer Boulevards.

Großer Applaus. Beim Nachgespräch verrät Davydova, viele Menschen aus postsowjetischen Ländern hätten ihr versichert, das „Museum“, das ab dem 27. September am Berliner HAU läuft, erzähle ihre Geschichte.

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