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#Vom beglückenden Gefühl, zwei Stunden zu ballern

Vom beglückenden Gefühl, zwei Stunden zu ballern

In der fünften Klasse hatte Alexander Wertmann keine Ahnung, dass er Jude ist. In einer Ethikstunde zum Thema Weltreligion fragte die Lehrerin, wer welche Religion habe – und Wertmann schämte sich, weil er nicht wusste, was antworten. Als seine Mutter es ihm erklärte, habe ihn das erst einmal erschreckt, sagt er heute: „Weil das ein Schimpfwort war, eins, das ich auch schon mal benutzt hatte.“

Anna Vollmer

Wertmann ist 22 Jahre alt und hat vor kurzem seinen Abschluss an der renommierten Berliner Schauspielschule Ernst Busch gemacht. Die meisten kennen sein Gesicht noch nicht, aber das könnte sich bald ändern. Gerade ist er im Film „Masel Tov Cocktail“ zu sehen, den man in der Arte-Mediathek anschauen kann. Der Film der beiden jungen Regisseure Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch spielt im Ruhrpott und erzählt in nur einer halben Stunde von einem Tag im Leben des achtzehn Jahre alten Schülers Dimitrij Liebermann. Es ist die Geschichte eines Juden, der keine Lust mehr auf die Opferrolle hat und der zeigen möchte, dass es ein jüdisches Leben nach der Schoa gibt. Der Antisemitismus nicht schluckt, sondern sich wehrt.

Wenn Wertmann, der genau wie der Protagonist Jude und Sohn russischer Einwanderer ist, von den Dreharbeiten erzählt, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Er ist stolz auf den Film, weil er weiß, dass viele sich darin wiederfinden. Genau wie er selbst: „Als ich das Buch gelesen hab, habe ich gleich gedacht: Das ist meins.“ Er kannte die Szenen und irgendwie auch diesen Dimitrij, der natürlich nicht er ist, aber ein bisschen doch schon.

Als Wertmann zur Schule ging, habe es durchaus „Zwischenfälle“ gegeben, wie er rückblickend sagt, seiner Mutter fielen die blauen Flecken an ihrem Kind auf: „Also hat sie sich an die jüdische Gemeinde gewandt, die die Schulleitung informiert hat. Meine Klasse musste eine Führung in der Synagoge machen, und ab da hat es aufgehört.“ Er sagt das mit einer abgeklärten Distanz, ohne dabei irgendetwas zu verharmlosen: „Antisemitismus hat es immer gegeben und gibt es noch.“

Nach jener Ethikstunde vor vielen Jahren begann Wertmann, sich für seine Religion zu interessieren, er lernte die lokale jüdische Gemeinde kennen und fing mit elf Jahren an, dort Theater zu spielen. Als er sich nach der Schule an Schauspielschulen in Berlin, München und Leipzig bewarb, lief es überall gut, aber er entschied sich für Berlin.

Wird Wertmann heute fotografiert, weiß er manchmal nicht recht, wohin mit seinen Händen, und muss lachen. Auf der Bühne, sagt er, sei er gern komisch, auch wenn er an der Schauspielschule häufig tragische Rollen gespielt habe. Improvisieren, sagt Wertmann, könne er dagegen überhaupt nicht, und auch unsympathische Menschen zu spielen fiele ihm schwer. Und dann sagt er einen Satz, den auch Dimitrij im Film immer wieder sagt: „Ich bin kein aggressiver Typ.“

Geschichten, die nicht nach Shakespeare klingen

Das Theater liebt Wertmann, weil er gut erzählte Geschichten mag und die am liebsten auf der Bühne sieht. Dort und auch im Film wünscht er sich einen diverseren Spielplan, Geschichten wie die des Dimi in „Masel Tov Cocktail“ zum Beispiel. Weil sie von den Erfahrungen einer jungen jüdischen Generation erzählen wollten, suchten die Regisseure für ihren Film explizit einen jüdischen Schauspieler, einen, bei dem die Worte „ein richtiger, lebendiger Jude“ nicht komisch klangen. Das stellte sich als schwieriger heraus als gedacht.

Über einen Zufall stießen sie auf Wertmann. Er solle „einfach nur lesen“, habe einer der Regisseure ihm beim Casting immer wieder gesagt. „Ich wusste überhaupt nicht, was er damit meint“, sagt Wertmann heute. Nach der Hälfte der Dreharbeiten gestand ihm der Regisseur, dass er das Casting „schrecklich“ gefunden habe: „Er hatte sich wohl gefragt, ob ich überhaupt schon mal einen Film gesehen hätte, weil alles nach Shakespeare klang.“ Khaet und Paatzsch entschieden sich trotzdem für ihn. Denn schon nach zwei Stunden Casting habe er vieles besser gemacht. „Außerdem“, sagt Wertmann, „wollten sie einen jüdischen Schauspieler im richtigen Alter, der Russisch kann. Und davon gibt es nun wahrlich nicht viele.“

Ob es nun Instinkt war oder Mut, der die beiden Regisseure dazu bewog, sich für Wertmann zu entscheiden – es lohnte sich. Im Film ist von Shakespeare nichts mehr zu sehen, Wertmann spielt den Protagonisten Dimi mit einer sehr charmanten Lässigkeit und wendet sich mit einem Augenzwinkern immer wieder direkt an die Zuschauer. Sowohl der Film als auch sein Hauptdarsteller gewannen eine Reihe von Preisen. Auf dem wichtigsten Nachwuchsfilmfestival, dem „Max-Ophüls-Festival“, wurde Wertmann als bester Darsteller nominiert, „Masel Tov Cocktail“ erhielt den Publikumspreis für den besten mittellangen Film.

Trotz dieses Erfolgs will Wertmann erst mal weiter Theater spielen, denn an ihm, sagt er, hänge sein Herz. Er liebt die direkte Reaktion des Publikums, die Energie, die nur auf der Bühne entsteht, das Gefühl, „zwei Stunden zu ballern“. Gleich nach seinem Absolventenvorsprechen im vergangenen Oktober bekam er ein Angebot für das Schauspiel Bochum. Er freut sich auf eine neue Stadt und auf ein anderes Publikum als in Berlin, wo, wie er sagt, immer die gleichen Leute kämen. Dadurch gebe es zu wenig Diskussionen. Wertmann wünscht sich ein Theater, das seine Räume öffnet, gerade auch für Menschen, denen das, was sie sehen, vielleicht nicht gefällt. Als Beispiel nennt er Christoph Schlingensief, dem genau diese Art Theater gelungen sei. Doch Wertmann weiß auch, wie schwierig das ist. Das beginne schon damit, die Menschen ans Theater heranzuführen. Wenn es auf der Bühne nur so vor Blut, Nacktheit, Kotzen und Sex strotze, schrecke das seiner Meinung nach viele Jugendliche ab. Vor allem, wenn es der erste Besuch sei und der Deutschlehrer danebensitze. So ging es auch ihm früher. Nicht nur deshalb glaubt man ihm, dass er es einmal besser machen will.

Der Film Masel Tov Cocktail findet sich in der Mediathek von Arte und in der ARD-Mediathek.

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