#Votum auf deutsche Art: Wie sich Berlin ins Brüsseler Abseits manövriert
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Kehrtwenden in letzter Minute, folgenschwere Enthaltungen bei wichtigen Abstimmungen wie dem EU-Lieferkettengesetz – das „German Vote“ ist in Brüssel die Regel. Das Schlimmste: Die anderen sind nicht einmal mehr genervt.
Anfang Januar hatte der Berliner EU-Botschafter Michael Clauß genug. Er griff in die Tasten und schrieb einen gepfefferten Brief an die Hauptstadt. Betreff: „German Vote“ – das stete „Ja, nein, aber, vielleicht“ der Bundesregierung zu Gesetzesvorschlägen der EU-Kommission, das meist in einer hilflosen, aber oft folgenschweren Enthaltung bei der entscheidenden Abstimmung endet. Enthaltungen zählen bei Voten faktisch wie ein Nein.
Deutschland verspiele Einfluss und Glaubwürdigkeit in Brüssel, „weil wir kurz vor Abschluss von Dossiers unsere Haltung ändern, urplötzlich Sonderregelungen fordern oder widersprüchliche Signale senden“. Das Resultat im besten Fall: „Kopfschütteln“. Mehr noch: „Wir büßen europapolitische Reputation ein, die unsere Stellung in Brüssel weit über das jeweilige Dossier hinaus beschädigt.“
Aus Kopfschütteln wird Empörung
Ein Jahr ist das her. Seither läuft alles getreu dem alten Hildegard-Knef-Lied „Von nun an ging’s bergab“. Wenige Wochen nach dem Schreiben blockiert Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) in letzter Minute die Entscheidung zum Verbrennerverbot, obwohl sein Ministerium dem von Europaparlament und EU-Staaten ausgehandelten Text Monate zuvor noch zugestimmt hat. Deutschland muss sich enthalten. Die nötige Mehrheit im Ministerrat kippt.
Aus Kopfschütteln wird helle Empörung über den „Wissing-Move“. Es dauert Wochen, bevor die FDP-Minister in der Regierung einlenken, nachdem die EU-Kommission Zugeständnisse gemacht hat. Am Ende kann Deutschland doch mit Ja stimmen.
Spätestens da ist der Begriff „German Vote“ im Wortschatz der Berliner Politik und der Öffentlichkeit angekommen. Besonderen Eindruck aber scheint weder der Ärger um das Verbrennerverbot noch der Brief des EU-Botschafters hinterlassen zu haben. Immer wieder bremst Berlin Verhandlungen aus, weil sich die Ampelkoalition nicht auf eine Position festlegen kann. Immer wieder flackert die Ampel zwischen Gelb und Grün, weil sich beide Parteien nicht einig sind.
Die Liste der Gesetzesvorhaben, bei denen es zum „German Vote“ kam oder es erst spät abgewendet werden konnte, ist lang: Asylkompromiss, Bargeldobergrenze, Glyphosat, Lohntransparenz, Euro-7-Abgasgrenzwerte, Künstliche Intelligenz. Wenn überhaupt, steht die deutsche Position oft erst kurz vor dem endgültigen Votum. So wie beim Gesetz zur Künstlichen Intelligenz („AI Act“), dem die FDP erst Mitte dieser Woche zugestimmt hat.
An der nächsten Enthaltung dürfte kein Weg vorbeiführen
Sie hatte – „kurz vor Abschluss des Dossiers“ – Bedenken an der Trilog-Einigung von Europaparlament und Ministerrat vom Dezember angemeldet. Drei Tage und zwei Nächte hatten die Unterhändler miteinander gerungen, bevor das Ergebnis stand. Umso größer war die Erleichterung in Berlin, als die FDP dann doch nachgab. Deutschland blieb die Peinlichkeit erspart, sich als einziger Staat beim Votum der EU-Botschafter am Freitag enthalten zu müssen.
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