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#Wer wollen wir sein?

Wer wollen wir sein?

Ring, ring, ring. 7.00 Uhr zeigte der Wecker. Es war der Morgen nach dem Aus der deutschen Nationalmannschaft. Das Telefon! Immer wieder meldeten sich englische Medienvertreter bei mir. Sie wollten Erklärungen. Sie suchten nach Antworten. „Und am Ende gewinnen immer die Deutschen“ – war Gary Linekers berühmtes Fußball-Zitat nicht mehr gültig? Es wirkte beinahe so, als könnten sie selbst nicht glauben, was am Abend zuvor geschehen war. Hatten sie wirklich gewonnen? Deutschland besiegt? Im Achtelfinale eines wichtigen Turniers? Hatte es wirklich keinen englischen Torwartfehler gegeben? Kein Elfmeterschießen? Kein Versagen?

Fragen, die ich am frühen Morgen beantworten durfte. Also habe ich etwa der BBC erklärt, dass diese deutsche Mannschaft so gut wie nichts mehr gemeinsam hat mit dem Team, das 2014 Weltmeister geworden ist. Die Mannschaft, wie sie der DFB nennt, ist nur noch eine Mannschaft. Sie hat den Anschluss zur Weltklasse verloren – vorerst zumindest.

Ich habe das Spiel gegen England zu Hause in Zwiesel in Bayern geguckt. Einen Tag nachdem ich in Bukarest Zeuge eines der wohl spannendsten Achtelfinalspiele der Geschichte werden durfte. Au revoir, Weltmeister Frankreich!

Was soll ich zum deutschen Ausscheiden sagen? Am Ende habe ich mich nicht einmal geärgert. Da haben lange zwei Mannschaften auf Augenhöhe gespielt, aber die Engländer waren schärfer, heißer, schneller und giftiger, sie wollten diesen Sieg einfach mehr. Warum das so war, warum die Nationalmannschaft nun schon seit Jahren nicht mehr auf das absolute Spitzenniveau kommt, das muss man knallhart analysieren – und zwar ohne eine schwarz-rot-goldene Brille auf der Nase.

F.A.S.-Experte Lutz Pfannenstiel


F.A.S.-Experte Lutz Pfannenstiel
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Bild: Privat

Wenn du wie die Nationalmannschaft von vier Spielen bei dieser EM nur eines gewinnst und sieben Gegentore kassierst, dann kannst du dich danach schlecht hinstellen und sagen: Eigentlich wären wir gut genug, um Europameister zu werden! Ab und zu ist Fußball ja aber auch ein Zahlenspiel, und die Realität ist gerade einfach eine andere. Manch einer sagt, Joachim Löw sei als lame duck in dieses Turnier gegangen, weil sein persönlicher Abpfiff schon vor dem ersten Anpfiff feststand. Ich glaube das nicht. Die Mannschaft wollte, sie hat es versucht – aber sie konnte nicht mehr.

Die Dominanz, die wir schon mal hatten, mit 75 Prozent Ballbesitz, wir legen uns den Gegner zurecht, bis sich eine Lücke auftut, und machen Tore, dazu ist diese Mannschaft gerade nicht in der Lage. Und in der Defensive ist sie nicht stabil genug. Das System mit der Dreierkette war von Anfang an ein Risiko und hat bei diesem Turnier nie richtig funktioniert. Hummels hat das gut gemacht, er hat mehrmals seine gefürchtete Todesgrätsche ausgepackt, trotzdem hat man ihm angemerkt, dass ihm ein Stück weit das Tempo fehlt.

Auch Ginter war ordentlich, Rüdiger auch – aber gemeinsam haben sie einfach nicht harmoniert. Um Automatismen aufzubauen, brauchst du sehr viel Zeit, das geht nicht in wenigen Wochen vor einer EM. Als Julian Nagelsmann in Hoffenheim auf die Dreierkette umgestellt hat, da war das harte Arbeit, wochenlange, detaillierte, akribische Trainingsarbeit, bis es am Ende funktioniert.

Der Fußball hat sich in den vergangenen Jahren schnell weiterentwickelt. Kleine Nationen haben das Verteidigen perfektioniert, und die Großen, die Belgier, die Italiener, die Franzosen, teilweise auch die Engländer, zeigen, was vorne passieren muss: brutal schnelles Umschaltspiel. So wie es auch Nagelsmann mit seinen Mannschaften praktiziert, so wie es auch Hansi Flick zuletzt immer wieder bei den Bayern hat spielen lassen. In der Nationalmannschaft machen wir das nicht. Zum einen, weil es Löw taktisch nicht wollte. Zum anderen, weil die Mannschaft so aufgestellt war, dass sie es nicht konnte.

Die Frage, die sich stellt: Wie wollen wir künftig mit der Nationalmannschaft spielen? Wer wollen wir sein? Der von Thomas Tuchel trainierte FC Chelsea hat zuletzt mit einem schlauen taktischen Set-up gegen die beste Ballbesitzmannschaft überhaupt, Manchester City, das Champions-League-Finale gewonnen. Jeder Einzelne hat genau gewusst, was gegen diese Ballbesitzspieler, die nur bam, bam, bam, bam, bam spielen, zu tun ist. Das ist nur ein Beispiel für das, was möglich ist.

Ich kenne Hansi Flick sehr gut, wir haben regelmäßig Kontakt, und ich weiß, dass er dieses Turnier zum Anlass genommen hat, um in seinem Kopf alles zu zerlegen und zu analysieren, aber vor allem sich ein Bild von der künftigen Nationalmannschaft unter ihm als Bundestrainer zu machen. Es ist ja auch nicht alles schlecht. Musiala, den er von den Bayern kennt, kann ein Großer werden.

Gnabry und Sané haben zumindest das Potential für die Weltklasse, Havertz hat eine tolle EM gespielt. Deutschland ist gerade wieder U-21-Europameister geworden, wir haben auf jeder Position richtig gute Jungs. Du musst halt einfach den Mut haben und einen Umbruch wagen. Wie? Das muss Hansi entscheiden. Er kann die radikale Variante wählen und einen Schnitt machen oder es Schritt für Schritt machen. Dass er es machen muss, daran besteht kein Zweifel.

Das wissen sogar die Engländer. Und für die hatte – das weiß ich von der Fragestunde am Morgen nach dem Spiel – dieses Achtelfinale die therapeutische Wirkung eines Endspielsiegs.

Joachim Löw tritt ab als Bundestrainer, Hansi Flick (rechts) folgt ihm.


Joachim Löw tritt ab als Bundestrainer, Hansi Flick (rechts) folgt ihm.
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Bild: Picture-Alliance

Lutz Pfannenstiel hat in seiner Profikarriere auf allen ­Kontinenten gespielt: 25 Vereine in 13 Ländern, nachzulesen in „Unhaltbar – Meine ­Abenteuer als Welttorhüter“. Derzeit bereitet er St. Louis City SC als Sport­direktor auf den Start in der MLS von der Saison 2023 an vor. Zuvor war er für das Scouting bei der TSG ­Hoffenheim verantwortlich und als Sportvorstand bei Fortuna Düsseldorf tätig. Pfannenstiel, 48, arbeitet auch als TV-Experte für ZDF, BBC und DAZN. Er war Auslandsexperte beim DFB und Trainerausbilder bei der FIFA. Pfannenstiel begleitet die Fußball-EM (11. Juni bis 11. Juli) für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung als Experte.

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