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#Wie viele Prostituierte gibt es – und muss man ihnen helfen?

Vor der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland sorgte eine Zahl für Furore: „Flut von Prostituierten aus Osteuropa“ hieß eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa, in der von 30.000 bis 40.000 Prostituierten die Rede war, die in die WM-Städte „eingeschleust“ würden. Der „Spiegel“ und vor allem die feministische Zeitschrift „Emma“ schrieben dann von „Zwangsprostituierten“. Die Zahl erreichte irgendwann auch die Weltpresse, die „Washington Post“ schrieb von „40.000 Frauen und Kindern“, die „nach Deutschland gebracht“ würden.

Wibke Becker

Redakteurin in der Politik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

Deutschlandfunk Kultur ist Jahre später dieser Zahl von 40.000 Prostituierten nachgegangen. Der Autor Janosch Delcker hat nicht herausgefunden, wer verantwortlich für diese Zahl war. Aber er konnte nachweisen, dass sie ein Gerücht war. Es gab diese Frauen nicht. Eine Studie der Internationalen Organisation für Migration aus dem Jahr 2007 kam zu dem Ergebnis, dass die geschätzte Zahl von 40.000 Frauen, die Opfer von Menschenhandel werden sollten, „unrealistisch und unfundiert“ gewesen war. Vier Jahre später aber machte vor der WM in Südafrika dieselbe Zahl die Runde: 40.000 Prostituierte seien auf dem Weg. Und acht Jahre später, vor der WM in Brasilien, lud der Vatikan zu einer Pressekonferenz ein. Es sollte eine Kampagne gegen Zwangsprostitution vorgestellt werden. Eine Ordensschwester sagte, die Erfahrung zeige, dass die Risiken für Zwangsprostitution vor Großereignissen höher seien. „Das hat sich gezeigt während der Weltmeisterschaft in Deutschland und Südafrika, wo es eine Zunahme des Menschenhandels von 30 beziehungsweise 40 Prozent gab.“

Niemand weiß, wie viele Frauen sich verkaufen

Wenn es um Prostitution geht, dann verbreiten sich die aberwitzigsten Zahlen und Begriffe. Die 40.000 sind kein Einzelfall. Ein anderes Beispiel sind die 400.000 Prostituierten, die angeblich in Deutschland arbeiten sollen. Die Zahl tauchte zum ersten Mal 1985 auf. Fünf Jahre zuvor schrieben die „Stuttgarter Nachrichten“ noch von 60.000 Prostituierten. 1985 aber sprachen der Sozialdienst katholischer Frauen und die Katholische Sozialethische Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz bei einer Tagung auf einmal von mehr als 200.000. Die Dunkelziffer sei „fast noch einmal so hoch“, zitierte die „Frankfurter Rundschau“ damals die Ergebnisse. Die Zeitung schrieb nicht darüber, wie die Zahlen erhoben oder geschätzt worden waren, der Sozialdienst der katholischen Frauen kann es heute auch nicht mehr rekonstruieren. Aber für die weitere Geschichte ist das auch egal. Denn die „Emma“ übernahm Hell- und Dunkelziffer zwei Monate später in ihrer Februarausgabe 1986 und machte sie zu „offiziellen Zahlen“. Und schon im September waren es in der „Emma“ dann „400.000 Prostituierte, legal und illegal – mindestens!“ Zwei Jahre später griff der Prostituierten-Verein Hydra die Zahl auf.

Laufhaus im Frankfurter Bahnhofsviertel (Archivbild aus dem Januar 2021): Wenn es um Prostitution geht, verbreiten sich die aberwitzigsten Zahlen und Begriffe.


Laufhaus im Frankfurter Bahnhofsviertel (Archivbild aus dem Januar 2021): Wenn es um Prostitution geht, verbreiten sich die aberwitzigsten Zahlen und Begriffe.
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Bild: Frank Röth

Seitdem ist die 400.000 überall: Im Entwurf des Prostitutionsgesetzes 2001, in der vielbeachteten NDR-Doku „Sex – Made in Germany“ von 2013, in den Texten großer Zeitungen im Jahr 2023. Seit fast vierzig Jahren wiederholen Teile der Medien und Politik also dieselbe Zahl an Prostituierten. Und das, obwohl in der Bundesrepublik heute 20 Millionen mehr Menschen leben als 1985. Und obwohl Menschen aus ärmeren EU-Gebieten mittlerweile in der EU frei reisen und arbeiten können. Und obwohl meist in denselben Beiträgen, die von 400.000 Prostituierten sprechen, behauptet wird, dass der Sexkauf durch das Prostitutionsgesetz zugenommen habe.

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