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#1998: Die Achtundsechziger übernehmen

1998: Die Achtundsechziger übernehmen

Zu den angenehmen Seiten der Geschichtsschreibung gehört es, dass man aus sicherer zeitlicher Distanz „Vorboten“ kommender Ereignisse und Phänomene erkennt. In der Liste der Ergebnisse der Bundestagswahl vom 27. September 1998 fällt allenfalls auf den dritten Blick eine Gruppierung auf, die lediglich 433.099 Zweitstimmen auf sich vereinigte; das entsprach einem Anteil von 0,9 Prozent. Die Partei nannte sich „Pro DM“. Die Mark, Sinnbild für den Aufschwung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, war zu diesem Zeitpunkt schon offiziell ein Auslaufmodell. Zum 1. Januar 2002 wurde das Euro-Bargeld eingeführt. Mit dieser Veränderung waren durchaus nicht alle in Deutschland glücklich, vermutlich nicht einmal eine knappe Mehrheit.

Peter Sturm

Redakteur in der Politik, zuständig für „Politische Bücher“.

Auch im Wahlkampf warfen einige Dinge ihre Schatten voraus, die viele Jahre und einige Regierungen später die deutsche Politik beherrschen sollten. Zum Beispiel versicherte Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) bei der Klausurtagung seiner Partei in Wildbad Kreuth, der Euro werde genauso stabil sein wie die D-Mark. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, Waigels Parteifreund, warnte vor einer „Transferunion“ in Europa.

Deutsche Wahlgeschichte(n): Jeden Tag bis zum 26. September erzählen wir von einer früheren Bundestagswahl. Zuletzt erschienen:

1994: Als Rudolf Scharping Baden ging

1990: Ein gelber Tupfer auf der Landkarte

1987: Wahlkampfschlager „Asylanten“

Trotzdem dominierten wenige Jahre vor der Jahrtausendwende im Wettstreit der Parteien noch andere Themen. Zu den wichtigsten gehörte das Verlangen einer Mehrheit, an der Spitze der Regierung eine Veränderung herbeizuführen. Die historischen Verdienste Helmut Kohls um die Einheit Deutschlands stellte niemand ernsthaft in Frage. Aber die Entscheidung des Bundeskanzlers, ein weiteres Mal anzutreten, und zwar für die gesamte Legislaturperiode bis 2002, fand innerhalb und außerhalb der Unionsparteien immer weniger Unterstützung. Langjährige Weggefährten Kohls wie die ehemaligen FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff bewarben sich dagegen nicht noch einmal um ein Mandat.

Kohl war nicht auf Schröder eingestellt

Der Generationswechsel in der deutschen Politik wurde also schon einige Zeit vor der Wahl eingeleitet und an den Urnen nur noch besiegelt. Die SPD plakatierte nach 16 langen Jahren in der Opposition die vergleichsweise schlichte Formel: „Deutschland braucht einen neuen Kanzler“. Ihren Kandidaten für dieses Amt kürten die Sozialdemokraten gewissermaßen in einem Plebiszit. Der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder gewann am 1. März 1998 die Landtagswahl deutlich. Die SPD erreichte in dem Land ihr bestes Ergebnis seit 1947. Daraufhin wurde Schröder quasi über Nacht zum Kanzlerkandidaten ausgerufen. Das wiederum verhagelte der CDU ihr Wahlkampfkonzept. Bundeskanzler Kohl hatte sich auf ein zweites Duell mit dem saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine eingestellt. Diesen hätte er vergleichsweise leicht in eine radikal linke Ecke stellen können, was bei dem pragmatischer auftretenden Schröder nicht möglich war.

Schon Zeitgenossen bemerkten, dass die CDU auf einen Kandidaten Schröder nicht vorbereitet war. Trotzdem wollte die Partei, wie Generalsekretär Peter Hintze es formulierte, einen „glasklaren Richtungswahlkampf“ führen. So etwas hatte vier Jahre zuvor noch funktioniert. Die „Rote-Socken-Kampagne“ war noch in lebhafter Erinnerung. In die Hände der Lagerwahlkämpfer hätte eine Bemerkung des PDS-Politikers Gregor Gysi spielen können. Dieser sagte im April, seine Partei sei durchaus zu einer Zusammenarbeit mit SPD und Grünen bereit – unter der Voraussetzung, dass sie ihre eigenen Ziele in einer solchen Konstellation verwirklichen könne.

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Den ersten Stimmungstest nach der Nominierung Schröders bildete im April 1998 die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Auch hier gewann die SPD. Zumindest wurde sie deutlich stärkste Partei vor der CDU. Auf Bundesebene, so sagten die Sozialdemokraten, könnten sie sich eine große Koalition mit den Unionsparteien durchaus vorstellen. Eine Zusammenarbeit mit der FDP werde aber nicht angestrebt.

Die politische Gesamtkonstellation war, abgesehen vom Überdruss an der Kanzlerschaft Helmut Kohls, für die SPD schon seit einiger Zeit günstig. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat führten dazu, dass einerseits die SPD praktisch mitregierte, weil ohne ihr Mitwirken wenig lief. Wenn sie etwas aber blockierte, fiel die Kritik an ausbleibenden Veränderungen auf die Bundesregierung zurück. Das galt zum Beispiel für eine von Union und FDP angestrebte Steuerreform.

Am Wahltag wurde die SPD zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik stärkste politische Kraft. Die Sozialdemokraten erhielten 40,9 Prozent der Stimmen. CDU und CSU kamen nur noch auf 35,1 Prozent, die Grünen auf 6,7 und die FDP auf 6,2 Prozent. Auch die PDS übersprang mit 5,1 Prozent die Hürde. SPD und Grüne hatten eine Mehrheit der Mandate.

An die Regierung kamen nun Politiker, die für Konservative noch vor kurzer Zeit Schreckensgestalten gewesen waren. Schon lange bekannt waren zu dieser Zeit Plakate mit der Aufschrift „Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben“. Zu diesen Leuten zählte zweifellos der Grünen-Politiker Joschka Fischer. Der wurde unter Bundeskanzler Gerhard Schröder nun das, was gerne „Chefdiplomat“ genannt wird, also Außenminister. Es heißt, an diesem 27. September 1998 sei die Generation der „Achtundsechziger“ in Regierungsverantwortung gekommen. Der damals propagierte Marsch durch die Institutionen war erfolgreich. Und die Institutionen hielten es aus.

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