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#Am Anfang stand der Missbrauch von Heeresgerät

„Am Anfang stand der Missbrauch von Heeresgerät“

Es ist der entscheidende Vorzug dieses buchlangen Essays von Stephan Krass über das Radio und seine Zeit, dass es von einem Rundfunkhistoriker und -theoretiker stammt, der – als Redakteur des Südwestrundfunks in Baden-Baden – auf eine jahrzehntelange Praxis mit dem Medium zurückgreifen kann. Besonders wenn Krass die aktuelle Stellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im weiten Feld der Podcasts, Online-Content-Netzwerke und anderer „Ausspielorte“ des Internets erörtert, kommen seine Erfahrung mit dem Funktionieren von Sendeanstalten und seine enzyklopädische Kenntnis der „Archivschätze“ aus mittlerweile hundert Jahren Hörfunkgeschichte der kulturpolitischen und kulturgeschichtlichen Qualität seiner Vorschläge zugute. Und zugleich erlaubt ihm der theoretisch-mediengeschichtliche Hintergrund des Professors am Karlsruher „Zentrum für Kunst und Medien“, Bertolt Brechts Schriften zum Radio, Walter Benjamins „Hörmodelle“ oder die Anregungen der „Stuttgarter Schule“ um Max Bense und Reinhard Döhl in souveräner Weise für aktuelle Problemlagen in Stellung zu bringen.

Das Buch entfaltet die Geschichte des Mediums in elegant geschriebenen Episoden, die den Einfluss der Feature-Struktur nicht verleugnen, sondern literarisch fruchtbar machen. Es analysiert die Urszenen einer Kunstform, die Friedrich Kittler nach ihrem ursprünglichen Verwendungsort treffend als „Missbrauch von Heeresgerät“ charakterisiert hat. Sie bewährte sich zuerst an der Dokumentation einer sportlich-technischen Heldentat, dem Atlantikflug Charles Lindberghs 1927 und einer technologischen Katastrophe, dem Brand des Zeppelins LZ 129 bei der Landung in Lakehurst, New Jersey, zehn Jahre später. Beide Ereignisse wurden durch das neue Medium in Echtzeit gleichsam verdoppelt (eigentlich entstanden sie überhaupt erst durch die gleichzeitige Berichterstattung) – ein Vorgang, der grundsätzliche mediengeschichtliche Bedeutung hatte und sofort theoretische Selbstverständigungsbemühungen auslöste.

Stephan Krass: „Radiozeiten“. Vom Ätherspuk zum Podcast.


Stephan Krass: „Radiozeiten“. Vom Ätherspuk zum Podcast.
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Bild: zu Klampen Verlag

Die paradoxe Struktur der neuartigen Verbreitungsform, die seltsame und unbekannte Vermischung von An- und Abwesenheit, löste produktive Irritationen aus. Den Wiener Essayisten Anton Kuh erinnerte sie an Spuk, den amerikanischen Schriftsteller an Besessenheit. Eine Miniaturgeschichte jüngster Gegenwart entsteht in dem Kapitel über die Pop-Piratenradios der Sechzigerjahre, die offshore aus der Nordsee sendeten. Niemand kann sich im Zeitalter unbeschränkter Internet-Verfügbarkeit jedes beliebigen Musiktitels mehr vorstellen, wie es war, wenn „die Stimme im Radio plötzlich einen Titel ansagte, den man einmal gehört hatte und für ein nächstes Mal barfuß zum Nordpol gelaufen wäre“. Tonband- und Kassettengeräten, Koffer-und Taschenradios verdankten sich solchen Epiphanien vor dem Rundfunkgerät.

Eine reizvolle Vignette des Buchs macht mit der Radio-Stadt „Truth or Consequences“ in New Mexico bekannt, die seit 1950 nach einer frühen Quiz-Show heißt, die von dort ausgestrahlt wurde. Mit dem Arrangement des Pythagoras, der seine Schüler aus der Verborgenheit hinter einem Vorhang adressierte, um sie durch seine körperliche Gestalt nicht von seinen geistigen Botschaften abzulenken, fördert Krass eine überraschende Radio-Parallelaktion aus der antiken Kulturgeschichte zutage, die tatsächlich viel über die Paradoxien des Rundfunks lehrt.

Die mediengeschichtliche Reise geht in die Niederungen des politikförmigen Heeresgerätemissbrauchs durch Hitler und Stalin und hinauf zu den Höhen des bundesrepublikanischen Kulturradios der Reeducation-Periode nach dem Krieg und des Funk-Essayismus der Fünfzigerjahre, in die Zeit der großen Radiogespräche zwischen Benn und Becher, Adorno, Bloch und Gehlen und der literarischen Hörspielkultur bis in die Sechzigerjahre hinein.

Keinen Augenblick drängen sich dabei die Erfahrungen und Anekdoten des langjährigen Praktikers oder die Lesefrüchte des medienhistorisch umfassend informierten Theoretikers in den Vordergrund dieses im besten Sinn publikumsfreundlichen Buchs. Es hält seine Gelehrsamkeit in ausführlichen und gut geschriebenen Fußnoten in Griffnähe, aber einem gewissen Abstand. Wer sich unterhaltsam und trotzdem gediegen über Geschichte und Produktionsbedingungen eines Mediums informieren möchte, das seine klassische Periode zwar hinter sich hat, im Internetzeitalter aber eine neue und zum Teil überraschende Anregungskraft bewährt, kann zu diesem Buch greifen.

Stephan Krass: „Radiozeiten“. Vom Ätherspuk zum Podcast. zu Klampen Verlag, Springe 2022. 256 S., geb., 24,– €.

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