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#Dem Vater der polnischen Unabhängigkeit

Dem Vater der polnischen Unabhängigkeit

Eigentlich war ein Triumphbogen geplant, größer als das Pariser Vorbild an den Champs-Élysées. Polen feierte im vergangenen Jahr den hundertsten Jahrestag des „Wunders an der Weichsel“, den Sieg im polnisch-sowjetischen Krieg, als die Rote Armee kurz vor Warschau zurückgeschlagen wurde. Der Liedermacher Jan Pietrzak trommelte jahrelang für ein gigantisches, bogenförmiges Bauwerk, sammelte sogar Spenden. Doch daraus wurde nichts, und die übliche Warschauer Militärparade an diesem Tag wurde abgesagt, wegen Corona.

Gerhard Gnauck

Gerhard Gnauck

Politischer Korrespondent für Polen, die Ukraine, Estland, Lettland und Litauen mit Sitz in Warschau.

Dafür kam zum Jubiläum ein anderes, älteres Projekt zum Zuge: Ein Museum wurde im Herbst fertiggestellt, das nach der Aufhebung der Corona-Sperre von heute an offen steht. Es ist Józef Piłsudski gewidmet, der als bedeutendster polnischer Staatsmann des zwanzigsten Jahrhunderts gilt und auch 1920 als Oberbefehlshaber die führende Rolle spielte.

Marschall Piłsudski (1867 bis 1935) war schon unter der kommunistischen Diktatur – die ihn offiziell dämonisierte – die beliebteste historische Figur in Polen. Heute ist er der einzige Politiker von Rang in der jüngsten Geschichte, der in allen politischen Lagern verehrt wird, vom liberalen Bürgerrechtler und Publizisten Adam Michnik bis zum konservativen PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński, dessen Büro eine Büste des Marschalls ziert. Dessen Erzrivale Donald Tusk behandelte Piłsudski in seiner Magisterarbeit.

Kaum Spuren des Kriegsgeschehens

Das neue Museum steht in der Kleinstadt Sulejówek am Rande von Warschau, wohin Piłsudski sich 1923, des „Parteiengezänks“ müde, zurückgezogen hatte. Mit Spendengeld seiner Verehrer baute er sich die Villa Milusin, deren Eingang im Stil polnischer Herrenhäuser ein Vordach mit Portikus ziert. Als 1939 die Wehrmacht einmarschierte, quartierte sich in den Nachbargebäuden die „Abwehr“ ein, die verwaiste Villa ließen die Besatzer unangetastet. Sie wurde nach 1989 zur Keimzelle des späteren Museums, dessen Gründung die Nachfahren des Marschalls jahrzehntelang betreiben sollten.

Jetzt hat der polnische Staat auf dem Waldgrundstück etwas Neues gebaut, nach einem gelungenen Entwurf der Architekten Krzysztof Jaraczewski, einem Enkel des Marschalls, und Radosław Kacprzak. Zwei ineinander verschränkte Quader sind entstanden; die Fassaden sind teils aus sandfarbenem Sichtbeton, teils aus durchbrochen gearbeitetem weißem Stein mit fenstergroßen Öffnungen. Das gibt dem Gebäude Leichtigkeit, der Kiefernwald und die Villa sollten nicht dominiert werden. Außerdem hat das Gebäude drei Untergeschosse.

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Pilsudski verbrachte fünf Jahre in Sibirien

In den Katakomben, auf Etage „minus drei“, beginnt die Dauerausstellung: mit einer Weltkarte um 1900, in der zahllose Gebiete auf allen Kontinenten von Kolonialmächten verwaltet werden – auch das besetzte und geteilte Polen, das sich so als Opfernation in den Kolonialismusdiskurs einbringt. Darin eingebettet entfalten sich Kindheit und Jugend Piłsudskis als Leidensgeschichte, beginnend mit der Tatsache, dass die zaristischen Behörden den Polen einen muttersprachlichen Schulunterricht verweigerten. Piłsudskis Antwort war der Sozialismus. Er beteiligte sich an revolutionären Aktivitäten, etwa an Attentatsplänen auf Zar Alexander III., weswegen er für fünf Jahre nach Sibirien verbannt und der ebenfalls beteiligte Alexander Uljanow, der Bruder Lenins, zum Tode verurteilt wurde. „Das Gefängnis war Teil der polnischen Kultur“ lautet der Titel eines Ausstellungsteils, der wie alle anderen den Schriften Piłsudskis entnommenen ist.

Eingehend wird gewürdigt, wie der damalige Chef eines polnischen Schützenverbands 1914 an der Seite der Österreicher zunächst in den Krieg gegen Russland zog – weil er treffend vorausgesagt hatte, erst würden die Mittelmächte Russland besiegen und dann die Entente die Mittelmächte, so dass man sich mitten im Krieg selbständig machen und den polnischen Staat wiedergründen könne. 1920 wurde Piłsudski wieder gebraucht, als die Rote Armee nach Warschau vorrückte, eine fertige kommunistische Regierung für Polen im Reisegepäck. Hier sind Propagandaplakate der polnischen und der sowjetischen Seite zu sehen; eines der letzteren wirbt mit einer Frauengestalt mit Fackel, die verblüffend an die amerikanische Freiheitsstatue erinnert – doch mit einem roten Stern über dem Haupt.

Auch im Inneren wirkte der Sozialist Piłsudski: Er lenkte das Land 1918 in Richtung parlamentarische Demokratie, Frauenwahlrecht, Bürger- und Arbeitnehmerrechte. Von der angeblich „entarteten“ Demokratie enttäuscht, putschte er 1926 und regierte zunehmend autoritär. Die problematischen letzten Lebensjahre – ebenso wie sein verzweifeltes Bemühen, von 1933 an eine Politik der Äquidistanz zwischen den gefährlichen Nachbarn Hitler und Stalin zu betreiben – werden ohne Retuschen abgehandelt.

All das ist weitgehend auch auf Englisch beschriftet. Nicht zu viel Multimedia war die Richtschnur, mehr Artefakte, und seien es täuschend echt wirkende Faksimiles. Auch der Piłsudski-Kult wird behandelt. Auf dem Entwurf zu einem Reiter-„Standbild“ von 1936 fliegt der Marschall nur so dahin, die Schöße seines Uniformrocks blähen sich wie die Pegasusflügel. Gerne hätte man, sagt der Chefhistoriker des Museums, Grzegorz Nowik, Dokumente aus Russland gezeigt. Ein ganzes Archiv mit Piłsudskis früher Korrespondenz wurde nach 1939 erst von den deutschen Besatzern nach Danzig verschleppt und später von den Sowjets nach Moskau, wo es bis heute im Archiv ruht – der Zugang für ausländische Forscher hat sich unter Putin dramatisch verschlechtert.

Das neue Museum wolle auch Bildungsstätte sein, sagt der Gründungsdirektor Robert Supeł. Über die letzten zehn Jahre hat das Projekt etwa 47 Millionen Euro gekostet; das Ergebnis kann sich sehen lassen. Das Warschauer Kulturministerium hielt sich, wie im Museum zu hören ist, mit Vorgaben diesmal zurück.

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