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#Der Baumeister verdrückt sich mal lieber

Der Baumeister verdrückt sich mal lieber

Die Dame in der Kaiserloge wirkt resolut. Und reichlich ungeniert mit ihrer qualmenden Zigarette. Den Wischmopp hat sie wie ein Zepter neben sich aufgepflanzt, und statt Krone und Hermelin trägt sie Kopftuch und Schürze. Wir schreiben – und Felix Pestemer zeichnet – das Jahr 1918. Deutschland im Herbst: Die Revolution hat den Kaiser ins Exil getrieben, und auf dem Platz von Wilhelm II. sitzt im Königlichen Schauspielhaus von Berlin eine Putzfrau, der für diesen Auftritt aus dem Saal applaudiert wird. So will es zumindest eine zeitgenössische Anekdote, die Pestemer hier ins Bild setzt.

Das Motiv ist Teil eines ganzen Bilderbuchs zum zweihundertjährigen Bestehen des Konzerthauses Berlin, das bis zum Wiederaufbau nach Kriegszerstörung eben das Schauspielhaus war, errichtet am Gendarmenmarkt 1821 von Karl Friedrich von Schinkel, nachdem der erst fünfzehn Jahre alte Vorgängerbau 1817 einem Feuer zum Opfer gefallen war. Mit diesem Brand setzt Felix Pestemers Bild-Erzählung ein, genauer gesagt mit dem Augenzeugnis des Ehepaars Marianne und E.T.A. Hoffmann, das gleich gegenüber wohnte. E.T.A. Hoffmanns Oper „Undine“ war gerade auf den Spielplan genommen worden, und in einem Brief an einen Freund beschrieb der Komponist, wie der Wind brennende Perücken aus dem Fundus über den Platz trieb. Die bei aller Trauer über den Untergang des Theaters burleske Szene ist ein buchstäblich furioser Auftakt für Pestemers Buch. Es heißt nach dem Motto der derzeitigen Jubiläumssaison „Alles bleibt anders“. Pikanterweise ist es einer der wenigen Bestandteile der Feierlichkeiten, die in der Pandemie übriggeblieben sind.

Felix Pestemers Bild der Putzfrau in der Kaiserloge im Jahr 1918


Felix Pestemers Bild der Putzfrau in der Kaiserloge im Jahr 1918
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Bild: Felix Pestemer: „Alles bliebt anders – Das Berliner Konzerthaus und seine Geschichte(n)“, Avant

Ein Experte für Kulturgeschichte in Bildern

Entstanden ist das im Avant Verlag erschienene Buch als Auftragsarbeit des Konzerthauses. Die Wahl des 1974 geborenen Pestemer dafür war naheliegend, hatte er doch 2019 schon für die nahegelegene Alte Nationalgalerie einen als Comic gestalteten Rundgang durch deren Sammlung gezeichnet („Im Auge des Betrachters“) und damit bewiesen, dass er Kulturgeschichte in Bildern erzählen kann. Gegenüber Pestemers 2012 erschienenem Debüt, dem Band „Der Staub der Ahnen“ über den mexikanischen Día de los Muertos, den opulent gefeierten Tag des Totengedenkens, war der Nationalgalerie-Band allerdings ein Rückschritt ins Konventionelle. Umso erfreulicher, dass die Jubiläumspublikation des Konzerthauses jetzt wieder revolutionäres Potential hat. Und das nicht nur inhaltlich mit Blick aufs Jahr 1918 (oder auf 1848 und 1989), sondern auch grafisch.

Der Illustrator Felix Pestemer mit seinem Buch vor dessen Gegenstand


Der Illustrator Felix Pestemer mit seinem Buch vor dessen Gegenstand
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Bild: ZB

Pestemer hat eine Hybridform gewählt: Die meisten Episoden aus der zweihundertjährigen Geschichte des Konzerthaus-Gebäudes werden als ganz- oder gar doppelseitige Tableaus dargeboten, dabei meistens aus zwei sich wiederholenden Blickwinkeln: frontal zur Fassade oder schräg vom Deutschen Dom her gesehen mit dem Französischen Dom im Hintergrund. Wie auf einer Bühne spielen sich in diesen beiden Dekors von knappen Texten begleitete geschichtliche Ereignisse ab, deren wichtigste Akteure bisweilen in die Bildkompositionen eingearbeitet sind. So etwa die ganze Hohenzollernherrscherfamilie in der Illustration zur Einweihung des Hauses, während sich vorne rechts der Architekt Schinkel aus dem Bild verdrückt – an derselben Stelle, wo Pestemer sich selbst auf dem Titelbild als Kontrabassist ins Bild gesetzt hat. Aber er ist ja auch so etwas wie der Architekt seines Buchs. Und die Idee, die Maxime „Alles bleibt anders“ durch die Inszenierung großer Teile des Buchs im Stil einer Guckkasten-Ästhetik zu veranschaulichen, ist in jeder Hinsicht konstruktiv.

Neben Einzelillustrationen gibt es auch erzählende Sequenzen

Daneben werden vier Aspekte als mehrseitige Comics erzählt: der Beginn mit dem Brandmorgen von 1817, Theodor Fontanes bei den Schauspielern gefürchtete Besuche als Theaterkritiker der „Vossischen Zeitung“, ein Garderobengespräch zwischen Hermann Göring und Gustav Gründgens über die Zukunft des Letzteren im nationalsozialistischen Staat und die improvisatorische Leistung der in ihren finanziellen Mitteln (aber nicht im Engagement) beschränkten Arbeiter beim Wiederaufbau zu DDR-Zeiten, von 1979 bis 1984. Die jeweils wechselnde monochrome Tönung dieser Kapitel lässt sie aus dem bilderbuchbunten Konvolut der Einzelillustrationen herausstechen.

Zu denen gehört auch der einzige Fall, dem man anmerkt, dass auch heute finanzielle Mittel knapp sind: Pestemer hat die in den achtziger Jahren übliche Warteschlange von Kartenkäufern gezeichnet – nach dem Vorbild von Heiner Carows 1987 gedrehtem Spielfilm „Coming Out“, für den einige Szenen dokumentarisch auf dem Gendarmenmarkt (damals noch ideologiebedingt „Platz der Akademie“) fotografiert wurden. Dieses Breitwandbild mit der sich über den ganzen Platz windenden Menschenreihe ist als Panoramaansicht gestaltet, die drei Seiten erfordert hätte – und somit im Buch eine Klappenlösung. Die hat man sich gespart, also muss man nun mitten im Bild umblättern, und der erwünschte Effekt ist perdu.

Felix Pestemers Bild der Schlangen zu DDR-Zeiten beim Kartenvorverkauf fürs Berliner Konzerthaus


Felix Pestemers Bild der Schlangen zu DDR-Zeiten beim Kartenvorverkauf fürs Berliner Konzerthaus
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Bild: Felix Pestiemer: „Alles bleibt anders – Das Berliner Konzerthaus und seine Geschichte(n)“, Avant

„Alles bleibt anders“ ist dennoch ein reines Vergnügen, optisch und erzählerisch. Ein umfangreicher Anhang entschlüsselt die Anspielungen des Zeichners, die man eventuell übersehen hat, das abschließende Tableau aus dem Jahr 2021 verheißt einen Sommer, wie wir ihn uns alle wünschen: belebtes Treiben auf dem Gendarmenmarkt ganz wie in alten Zeiten. Dass Pestemer dann noch die Vignette einer Querflötenspielerin in Schwarz und mit Mundschutz ergänzt hat, war angesichts der Zeitläufte unvermeidlich. Dass just im Konzerthaus kürzlich die staatliche Trauerfeier für die vielen Pandemietoten stattfand, konnte er da noch nicht wissen, doch angesichts dieses Bildes könnte man meinen, er hätte es geahnt.

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