#Keine klassischen „Tagesschau-Nazis“
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„Keine klassischen „Tagesschau-Nazis““
Woran erkennt man einen gewaltbereiten Rechtsextremisten, der sich in ein bürgerliches Leben zurückzieht? Es ist diese Frage, die bei der ersten öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Mordfall Walter Lübcke im Hessischen Landtag in Variationen immer wieder gestellt wird. Lübckes Mörder Stephan Ernst, der seit seiner Jugend in der Neonazi-Szene aktiv war, war – nach damaliger Einschätzung des Verfassungsschutzes – in den Jahren vor der Tat von Demos und Veranstaltungen verschwunden und „abgekühlt”.
Auf die Frage, wie der Verfassungsschutz hätte erkennen können, ob Ernst noch gefährlich war, gibt sich der erste Sachverständige an diesem Mittwoch zurückhaltend. Der Kasseler Journalist Joachim Tornau, der sich mit der rechtsextremen Szene in Nordhessen beschäftigt, sagt, man könne nicht in die Köpfe der Menschen schauen. Bezogen auf Ernst und andere Vertreter der rechtsextremen Szene in Nordhessen, sagt er: „Die haben das jedoch nicht nur in ihren Köpfen mit sich ausgemacht.“ Ernst habe sich beispielsweise auf seiner Arbeitsstelle fremdenfeindlich geäußert, so Tornau. Kollegen hätten sich bei den Behörden melden können.
Teilnahme an rechtsextremen Demos
Zuvor hatte der Sachverständige darauf verwiesen, dass Ernst, wie bereits mehrfach berichtet, seltener als früher, aber durchaus noch an Veranstaltungen von Rechtsextremisten teilgenommen hatte; etwa an einer Sonnenwendfeier 2011 oder einer rechtsextremen Demo in Chemnitz 2018. Tornau zog jedoch in Zweifel, dass der Verfassungsschutz Ernst überhaupt als „abgekühlt“ bewertete. Ernst sei ein wichtiger Akteur der Szene in Nordhessen gewesen. „Ein Rückzug aus der ersten Reihe ist kein Ausstieg aus der Szene.“
Auch die zweite Sachverständige, Kirsten Neumann vom Mobilen Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus in Nordhessen, will keinen Zeitraum nennen, in dem man davon sprechen könne, dass ein Extremist nicht mehr aktiv sei und damit nicht mehr vom Verfassungsschutz beobachtet werden müsse. Gesetzlich ist die Behörde allerdings verpflichtet, die Beobachtung einzustellen, wenn nach einer bestimmten Zeit keine neuen Informationen mehr vorliegen.
Bei der ersten Sitzung ging es vor allem um die Zusammensetzung der rechtsextremen Szene in Nordhessen. Die zwei Sachverständigen schätzten sie auf 100 Personen, 30 bis 40 weitere könnten bei Veranstaltungen hinzukommen. Die Szene sei nicht besonders groß, sei aber überregional vernetzt. Auch Ernst und seine Mitstreiter hätten in Kontakt zum Neonazi-Aktivisten Thorsten Heise aus Thüringen gestanden, für den Ernst und seine Mitstreiter auch Security-Dienste übernommen hätten. Nordhessen sei jedoch nicht „das Zentrum des Bösen“, so Tornau. Dass man so viel über die rechtsextremistischen Umtriebe in der Region wisse, habe damit zu tun, dass nach dem Mord an Lübcke viel recherchiert worden sei. „Die Szene bei uns in der Region orientiert sich nach Südniedersachsen und nach Thüringen. Wir haben eine sehr spezifische Gruppe, wo einige seit 20 Jahren aktiv sind“, sagt die Opferberaterin Neumann.
Kritik am Verfassungsschutz
Beide Sachverständige sehen Ursprünge rechtsextremer Umtriebe etwa in der rechtsextremen Arbeiterpartei FAP und der Wiking-Jugend; später habe man, so Tornau, rechtsextreme Gruppen wie „Combat 18“, die inzwischen verboten ist, lange gewähren lassen. Die Szene ziehe immer neue Personen an – durch Kampfsport, aber auch Musikveranstaltungen, so Tornau. Andere zögen sich, wie Ernst, für einen bestimmten Zeitraum ins Private zurück.
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Wie schwierig die Beobachtung der Szene sei, lassen beide erkennen. Den „klassischen ,Tagesschau‘-Nazi mit Bomberjacke und Springerstiefeln“ gebe es nicht. Immer wieder wird bei Tornau die Kritik am Verfassungsschutz deutlich. Was er über die Szene in Nordhessen wisse, wisse er durch eigene Recherchen, das Landesamt gebe praktisch keine Informationen heraus. In anderen, auch CDU-geführten Ländern, so Tornau, sei man offener und gebe Auskünfte.
Die Arbeit des Ausschusses hatte sich erheblich verzögert, weil das Oberlandesgericht Frankfurt die Akten erst nach dem Ende der Beweisaufnahme im Dezember zur Verfügung stellte. Nach elf nichtöffentlichen Sitzungen sollen im April weitere Sachverständige angehört werden. Erst nach der Sommerpause sollen auch Zeugen ihre Aussagen machen. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern es ein Versagen des Verfassungsschutzes gab und wie sich dieser künftig verändern muss, um besser auf die Gefahren reagieren zu können.
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