#Was hat uns bloß so ruiniert?
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„Was hat uns bloß so ruiniert?“
Es beginnt mit einer Silvesterparty zum Jahrtausendwechsel. Am 31. Dezember 1999 luden die amerikanische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum und ihr Mann Radek Sikorski, damals stellvertretender Außenminister der rechtsliberalen polnischen Regierung, ihre Freunde auf ein kleines Landgut in Chobielin, im Nordwesten Polens ein. Es kamen Journalisten aus London und Moskau, junge Diplomaten aus Warschau, zwei Freunde aus New York. Die meisten der geladenen Gäste aber waren Polen; Konservative, Antikommunisten und Liberale, von denen einige in Wirtschaftsfragen vielleicht eine dezidierte Meinung hatten. Alle aber glaubten selbstverständlich an die Demokratie, an den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, die Nato-Mitgliedschaft Polens, den anstehenden Beitritt des Landes zur Europäischen Union und an ein Polen, das fester Bestandteil des modernen Europas sein sollte.
Julia Encke
Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.
Zwei Jahrzehnte später – so beschreibt es Applebaum in ihrer scharfsinnigen und atemberaubend klar geschriebenen Analyse „Die Verlockung des Autoritären: Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“ – sei diese Einigkeit längst vorbei. Heute würde sie die Straßenseite wechseln, um einigen der Gäste ihrer damaligen Silvesterparty aus dem Weg zu gehen. Umgekehrt würden diese keinen Fuß mehr über ihre Schwelle setzen und sich sogar schämen, damals mit ihnen gefeiert zu haben – und diese Entfremdung sei nicht privater, sie sei politischer Natur: „Wir stehen auf entgegengesetzten Seiten eines tiefen Grabens, der die einstigen Konservativen Polens, aber auch Ungarns, Spaniens, Frankreichs, Italiens und zum Teil auch Großbritanniens und der Vereinigten Staaten in zwei Lager spaltet“, schreibt Applebaum, zählt sich und ihren Mann zum Lager eines pro-europäischen, marktwirtschaftlichen Konservativismus; andere, denen sie weiterhin nahestehen, zur linken Mitte.
Menschen, die keine Komplexität aushalten
Jene, die einen anderen Weg einschlugen, unterstützten nun dagegen die nationalistische Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS), die einen radikalen Gesinnungswandel hinter sich hat, frauenfeindlich, paranoid und unverhohlen autoritär geworden ist. Kaum hatte die PiS 2015 die Wahl mit knapper Mehrheit gewonnen, kaperte sie den staatlichen Rundfunk – beliebte Moderatoren und erfahrene Journalisten wurden entlassen. Die Partei versuchte, den Obersten Gerichtshof neu zu besetzen und Richter zu bestrafen, deren Urteile im Widerspruch zur Politik der Regierung standen. Sie erkor islamische Zuwanderer zur Zielscheibe, was nicht einfach ist in einem Land, in dem es kaum islamische Zuwanderer gibt, und schoss sich auf Homosexuelle ein. Manche der Silvestergäste wurden zu Internettrolls, Verschwörungstheoretikern, Antisemiten. Auch Anne Applebaum, die – unterbrochen von Aufenthalten in London und Washington – seit 1988 in Polen lebt und heute als Kolumnistin für „The Atlantic“ schreibt, wurde als „jüdische Drahtzieherin einer internationalen Pressekampagne gegen Polen“ denunziert.
Wie konnte das kommen?, fragt sie und stellt dabei klar, dass diejenigen, die sich radikalisierten, nicht zu den wirtschaftlichen Verlierern gehörten, ihre Arbeitsplätze nicht an Zuwanderer verloren, auch nicht Opfer der politischen Revolution nach 1989 waren. Hatten einige ihrer Freunde schon immer eine autoritäre Gesinnung, ohne es nach außen zu zeigen? Oder was steckt hinter dem Umbruch? „Die Verlockung des Autoritären“, das in dieser Woche auf Deutsch erscheint, ist eine Analyse dieses Umbruchs, bei welcher Applebaum sich immer wieder auf die Verhaltensökonomin Karen Stenner bezieht. Stenner kommt in der Persönlichkeitsforschung zu dem Ergebnis, dass rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe, die sich nach Homogenität und Ordnung sehne und auch latent vorhanden sein könne, ohne sich zu äußern: Menschen, die keine Komplexität aushalten und offen ausgetragene Meinungsverschiedenheiten nicht ertragen. Ihnen gegenüber stehen Menschen mit einer freiheitlichen Veranlagung, die Vielfalt und Unterschiede bevorzugen – wobei die Begriffe nicht deckungsgleich mit politisch „rechts“ und „links“ seien, es also um eine Geisteshaltung, nicht um gedanklichen Inhalt gehe.
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