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#Kindheit im Schatten der Industrieanlagen

Kindheit im Schatten der Industrieanlagen

„Von dem, was ich las, verstand ich nichts“, heißt es einmal in den autobiographischen Fragmenten Walter Benjamins, die 1950 postum unter dem Titel „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ erstmals als Buch erschienen sind. Benjamin hatte kurze Prosaskizzen gesammelt und sie nach einem neuartigen Schema organisiert: Situationen und Objekte bildeten die Überschriften, etwa „Zu spät gekommen“ oder „Der Nähkasten“, aber vor allem strukturierte Benjamin seine Texte anhand von Orten des privaten wie des öffentlichen Raumes: Speisekammer, Tiergarten, Pfaueninsel und Glienicke.

Hubert Spiegel

Die Ausstellung „Kindheit im Ruhrgebiet“, die jetzt in einem Galerieraum des Essener Ruhr Museums zu sehen ist, folgt einem ähnlichen Verfahren und versucht auf Benjamins Spuren die spezifischen Topographien der Kindheit in einer Landschaft zu erkunden, die in zum Teil extremer Weise von der Schwerindustrie und ihren Folgen für Umwelt, Arbeits- und Familienverhältnisse geprägt war. Weite Teile des Ruhrgebiets waren im vorigen Jahrhundert vollständig ökonomischen Erfordernissen unterworfen: Man lebte von Industrieanlagen, für Industrieanlagen und in ihrem Schatten. Kinder, die neben Stahlwerken, Aluhütten oder Kokereien spielten, Kinder, die im Winter die Hänge ehemaliger Abraumhalden mit dem Schlitten befuhren oder ihre Schiffchen im Abwasserkanal schwimmen ließen, waren bis weit in die siebziger Jahre hinein ein gewohnter Anblick. Wie aber sahen die Kinder dieses Umfeld, welche Erinnerungen haben sie heute als Erwachsene daran?

Die beiden ersten Flötisten der Kinderbetreuung der Zeche Graf Moltke, Gladbeck 1959


Die beiden ersten Flötisten der Kinderbetreuung der Zeche Graf Moltke, Gladbeck 1959
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Bild: Fotoarchiv Ruhr Museum/ Ruth Hal

Die Ausstellung, die in der ehemaligen Kohlenwäsche der Kokerei Zollverein gezeigt wird, versammelt 120 Fotografien, überwiegend von professionellen Fotografen wie Marga Kingler, Anton Tripp oder Horst Lang, und rahmt damit 66 Erinnerungsobjekte, die nach zwei Aufrufen in den lokalen Medien von Bürgerinnen und Bürgern eingereicht wurden. Rollschuhe, Schwimmpass, Glanzbilder in der Zigarrenkiste, Teddybär und Sprechpuppe, die ersten Fußballschuhe (zwei Streifen, Größe 32), Spielzeugpanzer „T96“, Poesiealbum, Carrera-Bahn und Tischfußballspiel – die Auswahl ist überwiegend erwartbar, ohne dass der Reiz der einzelnen Objekte darunter leiden würde. Aus Gesprächen mit den privaten Leihgebern entstanden Texte, die oft ebenso persönlich wie zeittypisch sind und den Zeitraum zwischen 1945 und dem Ende der achtziger Jahre umspannen.

Es ist eine Zeit, in der Kindheit – anders als heute – im Freien stattfand, auf der Straße. Der Wohlstand war meist überschaubar, Spielzeug wurde gern selbst gebastelt. Die Freude über die Objekte und die lebhafte Bürgerpartizipation wird indes getrübt. Dass sich im traditionell multiethnischen Ruhrgebiet kein Bürger mit Migrationshintergrund beteiligen wollte, ist eine Enttäuschung, der man Taten folgen ließ: Gemeinsam mit der Universität Essen-Duisburg wurde ein entsprechendes Projekt gestartet.

Schlittenfahren im Schlosspark von Essen-Borbeck im Januar 1979


Schlittenfahren im Schlosspark von Essen-Borbeck im Januar 1979
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Bild: Fotoarchiv Ruhr Museum/ Manfred

Walter Benjamins Unverständnis bezog sich auf seine frühen Lektüren, die nicht kindgerecht waren. Für Kinder ist die Umgebung, in der sie aufwachsen, selbstverständlich. Aber wenn sie sich für Geschichten interessieren, lernen sie früher oder später auch, in Landschaften zu lesen.

Kindheit im Ruhrgebiet. Ruhr Museum in der Kohlenwäsche, Zeche Zollverein Essen; bis 25. Mai 2021. Der im Klartext Verlag erschienene Katalog kostet 24,95 Euro.

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