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#Liebende und Lesende

Liebende und Lesende

Obwohl das Lesen öfters uns verschlungen
Die Augen und das Antlitz sich entfärbte

Per più fiate li occhi ci sospinse
quella lettura, e scolorocci il viso

(Inferno V, 130–131, übersetzt von Wilhelm Hertz)

Es ist nicht zwangsläufig ein Umweg, über Dublin nach Florenz zu reisen. In meinem Fall jedenfalls traf es sich, daß die Liebe zur irischen Literatur aufs glücklichste zur Beschäftigung mit dem goldenen Zeitalter der italienischen Dichtung hinführte – zählten doch James Joyce und Samuel Beckett zu den größten Bewunderern Dante Alighieris und den kundigsten Lesern und Erläuterern seiner Divina Commedia. Für Joyce begann und endete die italienische Literatur mit Dante; Dante, so Joyce, sei seine geistige Nahrung, der Rest nichts als Ballast. Und wirklich war Joyce’ Leidenschaft für den Florentiner mit dem markanten Profil schon in jungen Jahren derart offenkundig, daß Freunde ihn den „Dante of Dublin“ nannten.

Für Beckett wiederum kamen die entscheidenden literarischen Impulse von Joyce – und, sicherlich auch durch dessen Einfluß, gleichfalls von Dante. Noch als weltberühmter Autor trug Beckett stets eine Ausgabe der Commedia bei sich (bei einem Urlaub in Tanger in den siebziger Jahren las er, wenn er nicht gerade im Meer schwamm, im Inferno), und er benannte sogar eine frühe Figur seines erzählerischen Werkes nach einer Gestalt aus dem Purgatorio. Belacqua heißt der Mann, und um ihn kreist die Erzählung „Dante and the Lobster“, in der Belacqua Italienischstunden bei einer gewissen Signorina Adriana Ottolenghi absolviert und unverzüglich über Dante zu plaudern beginnt. Es könne ihrem Schüler, so die Signorina schließlich, wohl „nicht schaden, einmal Dantes seltene Mitleidsregungen in der Hölle zusammenzustellen“.

Einer der berühmtesten jener Szenen, an die Signorina Ottolenghi denkt, wohnt der Leser des fünften Gesangs des Inferno bei, geführt von Dante wie dieser von Vergil, dessen Aeneas ja selbst von Mitgefühl übermannt wird, wenn auch nicht in einem christlichen Jenseits, sondern einer römischen Unterwelt; wen wollte es wundern angesichts der hier wie dort geschilderten Schicksale, göttliche Gerechtigkeit hin oder her. Dante nämlich trifft im zweiten Höllenkreis nicht nur auf den Höllenrichter Minos, sondern vor allem auf die zu Lebzeiten sündhaft oder gar ruchlos Liebenden, die (wie immer bei Dante ist die Strafe ein Spiegelbild der weltlichen Verfehlung) von einem Wirbelwind in alle Ewigkeit hin und her gerissen werden. „Dichter“, wendet sich Dante an seinen Führer, „ich spräche gern / Die beiden Schatten dort, die nie sich trennen / Und die dem Winde scheinen leicht von fern“.

Bei dem Paar, dem für die kurze Dauer des nun folgenden Gesprächs innezuhalten gestattet wird, handelt es sich um Francesca da Rimini und Paolo Malatesta – sie eine junge Adlige aus Ravenna, er der Bruder jenes grobschlächtigen Gianciotto, den Francesca zu heiraten gezwungen ist und der sie und seinen Bruder umbringt, als Liebe die beiden zu Ehebrechern werden läßt (Gianciotto befindet sich folglich ein paar Höllenkreise weiter unten bei jenen, die ihre Verwandten ermordeten).

Schon die Vorstellung der unseligen Seelen ist berührend; es ist Francesca, die spricht: „Kein größeres Leid / Als sich erinnern in den Unglückstagen / Der guten Zeit; dein Lehrer weiß Bescheid“ (Nessun maggior dolore / che ricordarsi del tempo felice / ne la miseria; e ciò sa ’l tuo dottore). Unvergeßlich aber wird das Paar durch den Beginn ihrer Liebe, den Francesca auf Bitten Dantes schildert: „Obwohl das Lesen öfters uns verschlungen / Die Augen“ (Per più fiate li occhi ci sospinse / quella lettura), ist es eine einzige Stelle in einem Ritterroman über Lanzelot, die alles verändert, eine der Liebe gewidmete Passage, kein Zweifel, bei der, so Francesca, „er, auf den ich leiste nie Verzicht, // Den Mund geküßt mir bebend mit dem Munde“.

Die tragische Geschichte von Francesca und Paolo ist somit eine über die Macht der Liebe und zugleich eine über die Macht der Literatur, denn der Verführung Francescas durch Paolo geht die Verführung beider durch die Lektüre voraus; die Finger müssen zunächst das Papier berühren, bevor sie die Haut des anderen finden, aufs Blättern folgt das Entblättern. Das ist außerordentlich, ganz wie die Zeile, mit der Francesca ihren Bericht beschließt, in der alles, was auf sie folgt, aber nicht gesagt wird, enthalten ist: „Wir lasen weiter nicht in jener Stunde.“

Dante, der die Jenseitsreise immerhin wegen seiner Beatrice auf sich nimmt, muß sich als Liebhaber wie als Dichter angesprochen fühlen. Und vielleicht fällt er, gleichsam doppelt erschüttert, auch deshalb, wie es heißt (und wie Belacqua für Signorina Ottolenghis Kurs notiert haben wird), „wie Körper fallen, wenn sie tot“ (caddi come corpo morto cade), während Francesca und Paolo entschweben, weitergeweht werden, ganz, als lebten sie noch. Und das tun sie ja, dank Dante.

Jan Wagner ist Schriftsteller. 2017 erhielt er den Büchnerpreis.

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