Nachrichten

#Sie heißen Ali, Orhan oder Birnaz

Sie heißen Ali, Orhan oder Birnaz

Das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei, das heute vor sechzig Jahren in Bad Godesberg unterzeichnet wurde, ist ein unscheinbares Dokument. Es umfasst lediglich zwei Seiten. Aber diese beiden Seiten, die zusammen mit dem Muster eines deutschsprachigen Arbeitsvertrags für türkische Arbeitskräfte im Bundesarbeitsblatt veröffentlicht wurden, haben Deutschland nachhaltig verändert. Sie haben die Türkei verändert, und sie haben die Lebenswege von zahllosen Menschen geprägt.

Orhan ist noch ein kleines Kind, als sein Vater 1969 nach Deutschland geht, um dort zu arbeiten. Die Arbeitslosigkeit in der Türkei ist hoch, in Deutschland werden Arbeitskräfte gesucht. Dass auch außenpolitische Überlegungen beider Länder, der Putsch des türkischen Militärs im Jahr 1960 gegen die Regierung von Adnan Menderes sowie strategische Erwägungen der Nato zum Zustandekommen des Abkommens beigetragen haben, weiß damals kaum jemand. Nach zwei Jahren holt der Vater die ganze Familie zu sich. Orhan sieht zum ersten Mal ein Fotostudio von innen, denn für die Ausreise braucht er ein Passfoto. „In Deutschland, in der Umgebung von Gütersloh, angekommen, war für mich alles fremd. Ich wurde eingeschult. Ich konnte kein Wort Deutsch.“ Er schämt sich deswegen vor den deutschen Kindern, mit denen er im Schulbus sitzt. In der Schule werden deutsche und türkische Kinder getrennt unterrichtet. In Orhans Klasse sind sie 42. „In meinem Bergdorf an der Schwarzmeerküste, wo ich eingeschult worden war, war die Aufteilung etwas besser. Dort waren wir ungefähr dreißig Kinder, und die Grundschule ging bis in die fünfte Klasse.“

Erfahrungen von Fremdheit und Heimatverlust

Türkische Jungen, die gut in der Schule waren, machten eine Lehre zum Automechaniker, die Mädchen wurden Frisörin. „Etwas anderes wurde nicht angeboten“, erinnert sich Orhan Calisir, der heute als Journalist und Filmemacher arbeitet. Sein Vater war einer der türkischen „Gastarbeiter“ wie man damals sagte, die im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland kamen. Jetzt hat Calisir zusammen mit dem Kurator Bora Aksen für das neue Stadtlabor des Bremer Focke Museums elf türkische Mitbürger nach ihren Erinnerungen an jene Zeit befragt. Die Ausstellung „Lebenswege“ und das Begleitbuch dokumentieren Schicksale, die ebenso exemplarisch wie einzigartig sind. Was sie verbindet: Erfahrungen von Fremdheit und Heimatverlust.

Türkische Bergleute in der Zeche „Walsum“ nahe Duisburg


Türkische Bergleute in der Zeche „Walsum“ nahe Duisburg
:


Bild: ullstein bild

Ali Deniz, Jahrgang 1941, war einer der sogenannten „Jet-Lehrer“, die wegen des großen Lehrermangels in der Türkei in den Sechzigerjahren im Schnelldurchgang ausgebildet wurden. Weil er sich in einer linken Partei engagiert hatte und politisch verfolgt wurde, wollte er für einige Zeit nach Italien gehen. Dann las er in einer Zeitung von dem Anwerbeabkommen. Auf dem Arbeitsamt in Istanbul sagte man ihm, dass er in einer Werft arbeiten würde. Deniz wusste zwar nicht, was das ist, sagte aber: „Ich kenne mich aus.“ Auf der Bremer Vulkan-Werft lernte er Schweißen und in Abendkursen auch Deutsch. Als der Bremer Senat wenig später zweisprachige Lehrer sucht, bewirbt sich Ali Deniz und wird einer der sogenannten „Senatslehrer“. Deutschland bezeichnet er als seine Heimat. Aber begraben werden möchte er in seinem „Vaterland“, der Türkei. „Wer besucht mein Grab, wenn ich hier begraben werde? Kaum jemand. Aber in der Türkei würden Hunderte kommen. Deswegen will ich dorthin zurück.“

Zwölf Jahre lang, von 1961 bis 1973, war das Anwerbeabkommen in Kraft. 867.000 Menschen sind den mit ihm verbundenen Versprechungen gefolgt. Im Jahr 1974 zieht der Schriftsteller Aras Ören in seinem Langgedicht „Der kurze Traum aus Kagithane“ eine bittere Bilanz: „Die Achthunderttausend / Wie kranke Fische waren sie, / in Aquarien ohne Sonnenlicht, / wie kranke Fische waren sie, in / schlammigem Wasser, / in diesen Gegenden wie schlammige / Aquariengewässer.“ Örens Verse werden in der Ausstellung „Wir sind von hier“ im Essener Ruhr Museum zitiert, die jetzt zu Ende geht, aber im nächsten Jahr in Hamburg und Berlin gezeigt wird. Sie umfasst etwa 190 der insgesamt 3500 Fotografien, die der türkische Fotograf Ergun Catagay 1990 für seine große Bildreportage über türkisch-deutsches Leben in fünf deutschen Städten gemacht hat. In Bremen blickt man auf die Anfänge, Catagays Blick richtet sich auf die zweite Generation. Heute leben in Deutschland knapp drei Millionen Menschen mit türkischem Mi­grationshintergrund.

„Lebenswege“. Focke Museum Bremen. Bis 2. Februar. Der Katalog kostet 17,90 €.

„Wir sind von hier“. Vom 2. Februar an im Museum für Hamburgische Geschichte. Der Katalog kostet 29,95 €.

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!