#So unverständlich sind die Parteiprogramme
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„So unverständlich sind die Parteiprogramme“
Politiker aller Parteien beklagen gern die Inhaltslosigkeit von Wahlkämpfen. Im derzeitigen Wahlkampf spielten Schlampereien im Lebenslauf der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock oder die Jahre zurückliegende „Klausuren-Affäre“ des Unionskanzlerkandidaten Armin Laschet an manchen Tagen eine größere Rolle als Fragen des Klimaschutzes oder der Digitalisierung. Gern werden dafür die daueraufgeregten sozialen Medien verantwortlich gemacht.
Doch offenbar sind auch die Parteien selbst schuld, und zwar vor allem die Redaktionskollektive, die die Wahlprogramme verfassen. Nach einer Studie des Kommunikationswissenschaftlers Frank Brettschneider von der Universität Stuttgart-Hohenheim hapert es allen Wahlprogrammen an Verständlichkeit und klarem Deutsch. Der Wissenschaftler wertete mit seinem Team 83 Wahlprogramme der 20 Bundestagswahlen seit 1949 (inklusive der Wahl im kommenden September) aus. Untersucht wurden nur Programme von Parteien, die im Bundestag vertreten waren oder sind. Zudem wurden nur Parteien berücksichtigt, die während dieses Zeitraums den Sprung in drei Landtage schafften.
Nur 1994 seien die Wahlprogramme noch schwerer zu verstehen gewesen als heute, heißt es in der Studie. Sprachlich seien diese Texte geprägt durch „Kompromissphrasen“, verschachtelte Sätze und einen für normale Bürger völlig unverständlichen Fachjargon. Die Forscher nennen dafür eine Reihe von Beispielen: So fordert die SPD eine „Life-Chain“, die Union einen „Agri-FoodTech-Wagniskapitalfonds“, die FDP einen „Carbon Leakage-Schutz“ und die AfD eine „supranationale Remigrationsagenda“. Auch seien die Programme noch nie so umfangreich gewesen wie heute.
Die Grünen mit dem schwierigsten Programm
Zur Textanalyse verwendet Brettschneider mit seinem Team den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ (HIX). Er reicht von 0 für schwer verständlich bis zu 20 für leicht verständlich. Das am schwersten verständliche, komplexeste und längste Programm haben die Grünen geschrieben (HIX: 5,6 Punkte), das am leichtesten verständliche die Linkspartei (HIX: 8,4 Punkte). Nie zuvor, sagt Brettschneider, sei ein grünes Wahlprogramm so schwer verständlich gewesen wie das aktuelle. In den Anfangsjahren hätten die Grünen sogar zu einer populistischen Sprache geneigt, was an ihrer Selbstdefinition als „Anti-Parteien-Partei“ lag. Davon finde sich im grünen Bundestagsprogramm heute nichts mehr, stattdessen sei es stark von der Sprache der Fachpolitiker geprägt.
Heute verwendet die AfD eine nachweisbar populistische Sprache. So kommen in ihrem Programm häufig Wörter wie Elite, Establishment, Verrat oder Skandal vor. Bei allen anderen Parteien ist der Anteil antielitärer oder populistischer Formulierungen zurückgegangen. Die Grünen verwenden Begriffe wie „Klimaschutz“, „Klimakrise“ oder „Müll“ häufiger als andere Parteien; das FDP-Programm ist geprägt durch auffallend viele Begriffe aus der Wirtschaftspolitik; in der SPD spielen Begriffe aus der Sozial- und Beschäftigungspolitik wie „Brückenteilzeit“ oder „Arbeit“ erwartungsgemäß eine größere Rolle. Brettschneider hält es für einen Fehler der Parteien, sich nicht stärker um Verständlichkeit, kurze Sätze und sprachliche Klarheit zu bemühen: „Das sind verschenkte Kommunikationschancen. So werden Bürger, die sich nicht ständig mit Politik befassen, kaum motiviert, sich vor der Bundestagswahl mit den politischen Aussagen der Parteien zu befassen und sich ein Urteil zu bilden.“
Mit der Bedeutung von Wahlprogrammen beschäftigen sich Politikwissenschaftler regelmäßig. Grundsätzlich schreiben sie den Programmen nur einen indirekten Einfluss auf die Wahlentscheidung zu. Wichtiger sind heute die Bewertung der Spitzenkandidaten, einzelne Sachthemen und die grundsätzliche Identifikation mit einer Partei. Eine vor Jahren in Baden-Württemberg erhobene Umfrage zeigte, dass selbst Mitglieder die Langfassungen der Programme ihrer eigenen Partei nur selten gelesen haben – wenn überhaupt, kennen sie die Kurzfassungen.
Die Prosa der Facharbeitskreise
Doch obwohl also nur wenige Wähler ihre Entscheidung nach der stundenlangen, zeitraubenden Lektüre von Programmen treffen, ist deren Sprache nicht bedeutungslos: Programme dienen der innerparteilichen Integration, sie können Stammwähler binden, bieten Angriffsflächen für die politischen Gegner und sind nach der Wahl Grundlage von Koalitionsverhandlungen. Zudem dürfte die Bedeutung der Programme für die Anhänger verschiedener Parteien auch unterschiedlich groß sein: Für die Wähler der Grünen sind umfangreiche Ausführungen zum Klima- und Umweltschutz sicherlich wichtiger als grundsätzliche Aussagen zur Bildungspolitik im Wahlprogramm der Union.
„Klare Aussagen sind immer hilfreicher als Kompromissphrasen“, sagt Brettschneider, „denn Teile von dem, was in den Langfassungen der Programme steht, werden ja über Social Media und Internetseiten von den Politikern selbst verbreitet.“ Auch für die Programmierung von Wahl-O-Maten sind die Parteiprogramme die Grundlage. Weil heute alle Programme im Internet verfügbar sind, jeder Bürger Suchwörter eingeben und sich über Teilgebiete informieren kann, sollte die Bedeutung der Programme und ihrer Sprache auch nicht unterschätzt werden.
„Die Parteien überlassen die Programmarbeit häufig auch den Facharbeitskreisen, was der Verständlichkeit nicht dient. Und sie neigen auch zu einer taktischen Unverständlichkeit, das heißt, populäre Maßnahmen werden in kurze Sätze mit einer klaren Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur verfasst, unpopuläre Dinge finden sich dann in langen und unverständlichen Sätzen“, sagt Brettschneider. Ein Politiker, der das Prinzip der taktischen Unverständlichkeit perfekt beherrscht habe, sei im Übrigen der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder gewesen.
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