Schon kurz nach der Gründung der Querdenker-Bewegung in Stuttgart war klar: Es war etwas Neuartiges entstanden. Bilder von Mahatma Gandhi und Reichskriegsflaggen hatte man selten auf einer Demonstration zusammen gesehen. Dass Grüne mit einer Neigung zu Globuli und Alternativmedizin die Anwesenheit von Reichsbürgern dulden, ebenfalls nicht. Viel wurde spekuliert über den Charakter der neuen Bewegung gegen die Corona-Maßnahmen, aus Mangel an Empirie mussten pauschale historische Erklärungen herhalten, mal der Pietismus, mal die Reichsferne Württembergs im 19. Jahrhundert. Belege gibt es für solche historischen Kontinuitätskonstruktionen nicht, zum Verständnis tragen sie wenig bei.
Anders verhält es sich mit einer aktuellen Studie zur „Politischen Soziologie der Corona-Proteste“, verfasst von dem Basler Soziologen Oliver Nachtwey und seinen Kollegen Nadine Frei und Robert Schäfer. Die Untersuchung beruht auf Befragungen in Querdenker-Telegram-Gruppen; die Wissenschaftler werteten 1150 Fragebögen aus, die sie an Mitglieder der Querdenken-Telegram-Gruppen versandt hatten. Repräsentativ ist die Studie nicht. Außerdem interviewten sie Demonstrationsteilnehmer und machten auf verschiedenen Demonstrationen ethnographische Beobachtungen.
Fremden- und Islamfeindlichkeit schwach ausgeprägt
„Sozialstrukturell handelt es sich um eine relativ alte und relativ akademische Bewegung. Das Durchschnittsalter beträgt 47 Jahre, 31 Prozent haben Abitur, 34 Prozent einen Studienabschuss, der Anteil Selbständiger ist deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. Bei der letzten Bundestagswahl haben 21 Prozent die Grünen und 17 Prozent die Linke gewählt. Der AfD haben 14 Prozent ihre Stimme gegeben. Bei der nächsten Bundestagswahl wollen nun aber 30 Prozent der AfD ihre Stimme geben“, sagt Nachtwey. Charakteristisch für die neue Bewegung sei die Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems, den etablierten Medien und den alten Volksparteien. „Es ist eine Bewegung, die mehr von links kommt, aber stärker nach rechts geht, sie ist jedoch enorm widersprüchlich.“
Die Forscher fragten bei den Teilnehmern der Telegram-Gruppen die klassischen Muster des rechtsradikalen oder rechtsautoritären Denkens ab: Dabei zeigte sich, dass unter den Querdenkern – zumindest verdeckt – antisemitische Stereotype verbreitet sind, anderen klassisch rechtsautoritären oder rechtpopulistischen Einstellungen stimmen die Befragten jedoch weniger zu: 64 Prozent der Befragten sagen sogar, man müsse Kindern nicht beibringen, auf Autoritäten zu hören; der Nationalsozialismus wird seltener verharmlost als in der Gesamtbevölkerung.
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