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#Beide sind nicht reif dafür

„Beide sind nicht reif dafür“

Eine Sache war Wolodymyr Selenskyj besonders wichtig, bevor er Brüssel am Donnerstag verließ. Man brauche den Beginn von Beitrittsverhandlungen noch in diesem Jahr, sagte der ukrainische Präsident. Er sah dabei Charles Michel an, den Präsidenten des Europäischen Rats, und sprach auf Englisch weiter: „Charles, wenn ich sage dieses Jahr, dann meine ich dieses Jahr, zwei-null-dreiundzwanzig.“ Michel nuschelte daraufhin, er wisse um seine Verantwortung, man brauche Einstimmigkeit im Kreis der Staats- und Regierungschefs. Die Kommissionspräsidentin war etwas klarer. Es gebe keinen starren Zeitplan, sagte Ursula von der Leyen, der Beitrittsprozess beruhe auf individuellen Fortschritten.

Die Szene in der gemeinsamen Pressekonferenz brachte das Dilemma der Europäischen Union auf den Punkt. Einerseits dringt die ukrainische Regierung mit aller Macht auf eine unumkehrbare Anerkennung ih­rer Zugehörigkeit zur EU. Dafür gibt es zwei Gründe. Einen hat Selenskyj öffentlich ausgesprochen: Man benötige das als Motivation für die eigenen Soldaten, damit sie wissen, wo­für sie kämpfen. Selenskyj selbst braucht diese Perspektive, wenn er ei­nes Tages in Friedensverhandlungen Zugeständnisse machen muss, etwa was den NATO-Beitritt angeht.

Andererseits misst sich die Eröffnung von Verhandlungen an wohldefinierten Kriterien. Kiew muss sieben Reformen umsetzen, insbesondere zur Korruptionsbekämpfung. Um­setzen heißt, dass es nicht nur Ge­­setze und entsprechende Organe gibt, sondern dass sie sich auch in der Praxis bewähren.

Die Logik des Beitritts

Natürlich ist jede Entscheidung ein politisches Urteil, in das auch geopo­litische Erwägungen einfließen. Insofern ist es durchaus möglich, dass die Staats- und Regierungschefs Ende des Jahres dem ukrainischen Drängen nachgeben und Verhandlungen eröffnen. Danach kommt dann allerdings eine andere Logik zum Tragen.

In den Verhandlungen, üblicherweise in 35 Ka­pitel gegliedert, muss der ge­meinsame Rechtsbestand der Europäischen Union übernommen werden, Zehntausende Seiten mit Gesetzestexten. Viel zu verhandeln gibt es dabei gar nicht, es ist die Angleichung eines Landes an die Europäische Uni­on, und zwar so, dass es darin als Mitglied bestehen kann. Dafür reicht die Umsetzung auf dem Papier nicht, sie muss gelebt werden. Die politische Ordnung muss rechtsstaatlich, demokratisch und stabil sein. Außerdem muss ein Land dem Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt standhalten können. Das sind, kurz gefasst, die Kopenhagener Beitrittskriterien.

Die Mitgliedstaaten müssen sich daran halten, und sie haben wenig Spielraum. Niemand möchte, dass sich Probleme wiederholen, die es mit Bulgarien und Rumänien gab. Beide Länder mussten nach ihrem Bei­tritt unter besondere rechtsstaatliche Aufsicht gestellt werden. Selbst wenn es der Ukraine gelingen sollte, die tiefsitzende Korruption zu überwinden, steht es schlecht um ihre Wirtschaft. Mit jedem Tag, den der Krieg dauert, wird das Land weiter zurückgebombt. Es verliert seine in­dustrielle Basis und seine Infrastruktur. Schon jetzt betragen die Kriegsschäden mehrere Hundert Milliarden Euro. Ohne direkte Budgethilfe aus Brüssel käme Kiew nicht über die Runden. Wie sich all das in wenigen Jahren ändern soll, ist schwer zu verstehen.

Die EU muss aufnahmefähig sein

Außerdem kommt es bei der Er­weiterung nicht nur auf den Kandidaten an. Auch die Europäische Uni­on muss aufnahmefähig sein. Das be­trifft die Institutionen und die Entscheidungsprozesse. Man kann Kommission und Parlament nicht einfach mit jedem Beitrittsland vergrößern. Das Vetorecht muss eingeschränkt werden, wenn die Union immer größer wird. Und auch die Gemeinsame Agrarpolitik kann so nicht bleiben. Der Ukraine würden gewaltige Flächenprämien zustehen, die den Rahmen sprengen und Europa als geopolitischen Akteur nicht voranbringen. Allerdings ist der Appetit der meisten Mitgliedstaaten denkbar ge­ring, sich jetzt mit Vertragsänderungen zu beschäftigen. Solange man das auf die lange Bank schiebt, werden weitere Beitritte unweigerlich aufgeschoben. Das betrifft auch den westlichen Balkan.

Immerhin hat Selenskyj in Brüssel nicht das Ziel wiederholt, das sein Re­gierungschef Denys Schmyhal zuletzt ausgab: einen EU-Beitritt bis 2026. Das ist völlig unrealistisch. Solange die Ukraine im Krieg mit Russland steht, kann sie ohnehin nicht aufgenommen werden. Denn sonst könnte sie sich auf die Beistandsklausel im EU-Vertrag berufen. Die Europäische Union will sich aber so wenig wie die NATO in einen direkten Konflikt mit Russland hi­neinziehen lassen. Nur: Offen ausgesprochen wird das nicht. Sonst würde man Moskau ein Vetorecht zugestehen, sagen Diplomaten. Womit wir wieder beim Dilemma wären: zwischen einer Unterstützung der Ukraine und der Wahrung eigener Inte­ressen.

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